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Gedanken zu einer Reise im Februar nach Paris

Musée du Louvre, Musée Jacquemart André, Musée d’Orsay, Petit Palais

„Dieser  Brief darf Sie nicht glauben lassen, ich wäre verrückt geworden vor  Entzücken über Frankreich und Paris. Ich schreibe ihn in klarster  Geistesgegenwart, im Vollbesitz meiner Skepsis (…). Es drängt mich,  Ihnen persönlich zu sagen, daß Paris die Hauptstadt der Welt ist und daß  Sie hierherkommen müssen. Wer nicht hier war, ist nur ein halber Mensch  und überhaupt kein Europäer. Es ist frei, geistig im edelsten Sinn und  ironisch im herrlichsten Pathos.“ Vor nahezu exakt 100 Jahren schrieb  Joseph Roth diese überschwängliche Liebeserklärung über eine Stadt,  deren Zauber auch ich restlos verfallen bin.


Nicht  im grün hellen Mai jedoch erleben wir sie, sondern im wankelmütigen  Februar, der, bis auf den ersten Tag, die Straßenzüge in feuchtkaltes  Grau taucht. Aber wie im Frühling 1925 überzeugt die Eleganz dieser  Stadt im Winter 2023 selbstverständlich genauso. Wenn Roth schreibt,  hier wäre jeder Viehtreiber edler und vornehmer als ein deutscher  Minister, so begegnen wir ersterer Berufssparte heute natürlich nicht  mehr; der metaphorische Gehalt der Aussage ist aber immer noch an jeder  Ecke zu erleben. Die Nuancen seien es, rühmt Roth, in denen er sich  zutiefst verstanden fühlt. Als Schönheit der Geste könnte man dieses  Phänomen auch in einer Zeit beschreiben, in der die zahllosen Taxis die  Viehtreiber ersetzt haben. Die beiläufige Art, mit der Autotüren selbst  im dichtesten Verkehrstrubel aufgehalten werden, das stete Madame oder  Monsieur, für das es im Deutschen keine Entsprechung gibt, und das einem  hier überall dezent entgegenschallt, die leichthändige Nonchalance mit  der Brotkrümel mittels feiner Messerchen vom Tisch gefegt werden, die  Weise mit der einem die Garderobe abgenommen wird, zeugen vom nur in  dieser Stadt existierenden Vermögen, den Alltag auf vornehme Art zu  luxurieren.


Die  Epoche, die diesen Lebensstil erfunden und geprägt hat, war das Rokoko.  Und weil das 18. Jahrhundert wie kein anderes für Frankreich steht,  sind es die künstlerischen Zeugnisse dieser Zeit, die ich als erstes bei  meinem Besuch im Louvre begrüßen muss. Watteaus zart Verliebte,  Chardins verführerisch schimmernde Gegenstände, Fragonards luftig  Schaukelnde lassen den steten Alltagstrubel in einem der schönsten  Museen der Welt sofort vergessen. Zu Bouchers freundlich familiärer  Frühstücksszene, die den neuen Lebensstil auch bürgerlicher Kreise auf  so liebenswürdige Weise feiert, würde man sich gerne hinzugesellen.  Fliegende Händler brachten Schokolade ins Haus, das Getränk der Damen  und Kinder, die erstmals in der gehobenen französischen  Gesellschaftsschicht zusammen mit ihren Eltern ein Familienleben führen  durften. War es doch bisher üblich gewesen Kinder kurz nach der Geburt  zu Ammen aufs Land zu geben. Bouchers Ehefrau widmet sich, noch in  legerer Kleidung und unfrisiert, liebevoll ihren Kindern. Der Blick des  Malers auf das Häusliche war innovativ und, bis auf die Niederlande, in  Europa unbekannt. Bis heute bezaubert die sanfte Aufmerksamkeit mit der  er die alltägliche Schönheit der Details in diesem Gemälde festgehalten  hat. Egal ob in einer kleinen privaten Szene oder auch im monumentalen  Historiengemälde, der Louvre begeistert mit überbordender, sich vor  Größe nie scheuender Schönheit.


Sternstunden  der menschlichen Kultur, wenn auch im etwas kleineren Format, zeigt das  zauberhafte Museum Jacquemart André. Von 1869 bis 1875 als großzügiges  Stadthaus erbaut, birgt es bis heute die Sammlung des Ehepaars Édouard  André und Nélie Jacquemart. Mit seinem ererbten Vermögen gehörte der  Bankier zu den wohlhabendsten Bürgern im zweiten Kaiserreich. Bereits  vor seiner Eheschließung hatte er begonnen eine Sammlung anzulegen, die  sich durch zahlreiche Reisen nach Italien und dortige Kunstankäufe  stetig vergrößerte.


Von  besonderer Faszination ist das großformatige Fresko des Künstlers  Tiepolo, das dieser ursprünglich für den Palazzo Contarini geschaffen  hatte. Das Thema der Malerei zeigt eine Episode aus der  Familiengeschichte des italienischen Adelsgeschlechts: Heinrich III.,  durch seine Mutter Katharina von Medici italienischer Abstammung, wird  vom Dogen Contarini in Venedig empfangen. Heinrich ist auf dem Weg nach  Paris, wo er die Nachfolge seines Bruders Karls IX. als König von  Frankreich antreten soll.


Tiepolo  zeigt in perspektivischer Perfektion das Hinaufsteigen des Prinzen zur  Villa. Was lag näher, als dass der Kunstsammler André diese Szene  passgenau in sein hochelegantes Treppenhaus einpflegen ließ. „Ist dies  nicht die feinste Mischung aus allem Venezianischen und Französischen?“  fragte schon die Gazette des Beaux-Arts 1896. Kunst vermag es Zeiten und  Ereignisse mit federleichtem Kolorit zu überbrücken.

Kultiviertheit  und gestische Schönheit finden sich auf jedem Quadratmeter des Hauses:  die so liebevoll gestalteten Räumlichkeiten von Nélie und Édouard mit  anschließenden, für die damalige Zeit, hochmodernen Badezimmern, der  ovale Ballsaal, der uns nicht nur ins späte 19. Jahrhundert, sondern  aufgrund seines Dekors gleich zurück in 18. Jahrhundert versetzt, die  üppig eingerichteten Arbeits- und Studierzimmer, wo einem fast beiläufig  ein hochkonzentriertes, von Rembrandt in Öl fein gezeichnetes  Männerantlitz über die Schulter blickt und man eine Audienz bei der so  einnehmend charmanten Gräfin Catherine Skavronska erhält. Kongenial hat  die für ihre betörend schönen Damenporträts berühmte Elisabeth  Vigée-Lebrun die Nichte des Fürsten Potemkin in all ihrer lebendigen  Anmut und ihrem Liebreiz festgehalten.

Im  Obergeschoss ist – neben dem französischen Rokoko – die zweite große  Liebe des Ehepaars Jacquemart André zu besichtigen. Italienische  Frührenaissance wird in einer solchen Fülle dargeboten, dass man sich  fast in Florenz oder Siena wähnt. Skulpturen und Bilder, Reliefs und  Hochzeitstruhen, alles zeugt von klugem Sammlergeschmack.


Eindrucksvoll  geht es am folgenden Tag weiter. Vor uns öffnen sich von monumentaler  Großzügigkeit die Hallen des Musée d’Orsay, das früher einmal ein  Bahnhof gewesen ist. Spektakulär ist die Funktionswandlung gelungen.  Überbordendes französisches 19. Jahrhundert hält dieser Ort in Hülle und  Fülle bereit. Verständlich wird die Anziehungskraft, die Paris zu jener  Zeit auf alle Künstler in Europa hatte. Wer etwas auf sich hielt oder  etwas werden wollte, der musste nach Paris reisen. Hier pulsierte das  Herz der Kunstszene. Fulminante Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen  auf allen Ebenen: ob radikaler Realismus, endender Klassizismus,  theatralisch-farbgewaltige Romantik, gewagter Impressionismus,  patriotischer Historismus, theatralischer Akademismus oder der dem Fin  de siècle auch zunehmend innewohnende sozialkritische Blick: Hier finden  sich alle künstlerischen Sichtweisen und auch etliche Skandale.


Courbets  berühmter „Ursprung der Welt“ darf nun mitten in der Dauerausstellung  hängen und wird nicht mehr verschämt im dunklen Seitenkabinett gezeigt  wie noch vor einigen Jahren. Toulouse-Lautrec gibt einen schonungslosen  Blick auf die Schattenseiten des vergnügungssüchtigen Paris.  Charakteristisch verleiht er jenen künstlerisch Gestalt, die nicht im  strahlenden Licht der ersten elektrischen Lampen Champagner tranken,  sondern für ein paar Sous ihre Körper ruinierten. Manet lagert seine  Victorine Meurent so unverfroren provokant auf ihrem Bett, dass der  Skandal vorprogrammiert war. Nicht genug, dass er ein stadtbekanntes  Modell für seine „Olympia“ wählte, nein er zeigt sie in deutlich  erkennbarer Anleihe an Tizians „Venus von Urbino“ und konterkarierte  damit einmal mehr die bürgerlichen Sehgewohnheiten. Nun jedoch ist die  Frau nicht mehr in einen mythologischen Kontext eingebettet, sondern  nackt bis auf die modischen Pantöffelchen. Ihre Fußknöchel sind  geschwollen vom Stehen auf der Straße. Die Dienerin bringt bereits den  Blumenstrauß des nächsten Freiers. Manet zeigt im großen Format die  Doppelmoral jener Zeit auf listige Weise: Nur die Kenner solcher  Szenarien empörten sich, dass diese nun öffentlich gezeigt wurden. Durch  ihre Empörung jedoch entlarvten sie sich und ihr Wissen.

Ähnlich  gelagert im wahrsten Sinne des Wortes ist auch die erste ausgezogene  Frau der Kunstgeschichte. Im gleichen Jahr 1863 malte Manet mit seinem  „Frühstück im Grünen“ ein lässiges Picknick auf einer Waldeslichtung.  Während die Männer zeitgenössisch dandyhaft gekleidet sind, sitzt ihre  Begleiterin, ebenfalls den Betrachter unverwandt anblickend, jedoch  völlig nackt, daneben. Die Anstößigkeit liegt in Form des abgelegten  blauen Kleides zum Greifen nah am Bildvordergrund.

Wie  komplex die Zusammenhänge in der Kunst bisweilen sein können, lässt  sich in diesem Museum sinnfällig studieren. Während Manets Akte zu  europaweiten Skandalen führten, durfte Cabanel seine schaumgeborene, von  lasziver Deutlichkeit sich räkelnde „Venus“ an den Kaiser verkaufen. Er  wahrte die Form, indem er eine Frauengestalt schuf, die dem  überzeitlichen Ideal entsprach und keine Makel aufwies. Das Wichtigste  war jedoch, dass er sie symbolhaft durch seinen Titel zu hoher Kunst  erhob. Manet und Cabanel zeigen beide nackte Frauen, aber nur einer von  ihnen kleidet sie in das Gewand der Mythologie, was sie im Verständnis  der Zeit vor Verdächtigungen jedweder Art feite.


Überhaupt  scheint die Frau in all ihren Facetten eines der Lieblingsmotive im 19.  Jahrhundert gewesen zu sein. Rodin hat sich an ihr abgearbeitet, vor  allem aber auch Maillol. Erstaunt stellen wir im gleichnamigen Museum  fest, dass der Künstler eigentlich nur dieses Thema kannte. Nicht ganz  nehme ich dem berühmten Bildhauer jedoch ab, dass es ihm bei seiner  Motivwahl nicht um die Frau als solche ging, sondern er lediglich  Interesse für Volumen und Oberflächen gehabt habe. Nun ja….


Um den  Abschied etwas zu versüßen streifen wir am letzten Tag noch ein wenig  durch das Petit Palais, wobei dieser Begriff nur im Kontrast zum Grand  Palais Sinn macht. Klein ist in diesem städtischen Museum nichts, am  wenigsten die Formate der pathetischen Bilder, die große Szenen aus der  großen Geschichte der großen Nation feiern. Ich bewundere die fulminante  Sarah Bernhardt, den Superstar ihrer Zeit, die so hingegossen auf ihrer  Chaiselongue lagert, wie das eben nur in Paris geht, grüße ihren nicht  minder mondänen Hund und steige die kompliziert geschwungene Treppe  hinab ins Untergeschoss. Hier entdecke ich ein zauberhaftes kleines  Gemälde, das eine der wenigen Künstlerinnen des 17. Jahrhunderts in  Rückansicht zeigt, wie sie an ihrer Staffelei an einem Bild arbeitet.  Jan Miense Molenaer hat hier vermutlich seine Frau Judith Leyster bei  der Arbeit festgehalten. Jene Judith Leyster, deren fröhliche Musikanten  wir ein paar Tage zuvor im Louvre betrachtet haben. Die beiden Bilder  zeugen von einer Verbindungslinie, die in ihrer überraschenden  Zufälligkeit jene Schönheit der Geste in sich trägt, deretwegen ich  spätestens nächstes Jahr wieder nach Paris reisen muss.


Denn: „Wer nicht hier war, ist nur ein halber Mensch (…).“


https://www.louvre.fr

https://www.musee-orsay.fr

https://www.musee-jacquemart-andre.com

https://www.petitpalais.paris.fr

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