Gedanken zur Ausstellung „Rachel Ruysch. Nature into Art“
In der Alten Pinakothek München
„Lehrerin und Vorbild war ihr die Natur, die sie durch unermüdliches Studium und Übung so natürlich und geschickt nachahmte.“
Johan van Gool
1664 wurde Rachel Ruysch in Den Haag geboren. Lange kannten nur ausgewiesene Experten ihren Namen. Rangierte sie in der Erinnerungswürdigkeit doch gleich aus zwei Gründen auf den hinteren Rängen: Sie war eine Frau und sie beschäftigte sich in ihrer Malerei ausschließlich mit Blumen, Insekten und Früchten. Was bis vor Kurzem noch als Makel galt, wird nun von der Alten Pinakothek in einer eleganten Einzelausstellung gefeiert, die dem trüben Januargrau mit einem funkelnden Farbenrausch begegnet.
Lange Zeit galt Stilllebenmalerei als die niedrigste Bildgattung; waren doch weder erzählerische Erfindungsgabe noch anatomische Kenntnisse gefragt. Ausgehend von einem Kunstverständnis, das die Qualität eines Gemäldes an der Komplexität des Motivs ermisst und dessen Anfänge in die Renaissance zurückreichen, hatte Goethe 1789 in seinem Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ geschrieben: „So sieht man leicht, daß eine zwar fähige, aber beschränkte Natur angenehme, aber beschränkte Gegenstände auf diese Weise behandeln könne. (…) Das Gemüt, das sich mit einer solchen Arbeit beschäftigt, muss still, in sich gekehrt und in einem mäßigen Genuss genügsam sein. Diese Art der Nachbildung würde also bei so genannten toten oder stillliegenden Gegenständen von ruhigen, treuen, eingeschränkten Menschen in Ausübung gebracht werden. Sie schließt ihrer Natur nach eine hohe Vollkommenheit nicht aus.“
Sehen wir Goethe seine Annahme, man könne kurzerhand vom Motiv auf das Wesen des Künstlers schließen, nach. Wer sich im Verständnis jener Zeit durch ein „ruhiges, treues, eingeschränktes“ Gemüt auszeichnete, muss nicht explizit erwähnt werden. Da man Frauen bekanntlich generell einen des genuinen Erschaffens mächtigen Geist absprach, schienen sie prädestiniert für Malen von Stillleben jeglicher Art. Blumen, diese filigranen koloristischen Meisterwerke, galten als besonders geeignet um von weiblicher Hand verewigt zu werden.
Die bewusste und selbst gewählte kategorische Beschränkung auf lediglich ein Motiv ist im Grunde aber eine sehr moderne Vorgehensweise, die auch von zeitgenössischen Künstlern praktiziert wird; denke man nur an die blauen Bilder von Yves Klein. Geht mit solch einem einzigartigen Alleinstellungsmerkmal doch stets auch eine exklusive Wiedererkennbarkeit einher, die Rachel Ruysch intelligent zu nutzen wusste. Die zusätzlich von ihr betriebene künstliche Verknappung ist bis heute ein äußerst erfolgreiches Konzept der Luxusgüterindustrie, die die Sehnsucht nach dem begehrten Objekt noch mehr steigert.
Die auf ihrem herausragenden malerischen Talent fußende Spezialisierung muss deshalb als kluger Schachzug angesehen werden. Denn nur von wenigen Ausnahmen abgesehen, konnten sich Frauen in den anderen Gattungen der Malerei, allen voran der ehrwürdigen Historienmalerei, für die eine akademische Ausbildung nahezu unumgänglich war, nicht beweisen. So machte die Malerin aus der Not eine Tugend, indem sie ihre Ausgangslage in brillanter Weise nutzte und zu einer der gefragtesten Künstlerpersönlichkeiten ihrer Zeit wurde.
Als Tochter des Amsterdamer Professors für Anatomie und Botanik saß sie gewissermaßen an der Quelle und konnte Studienbedingungen für sich nutzen, von denen andere nur träumten. Frederik Ruyschs Sammlung galt als berühmte Attraktion, die sowohl Interessierte als auch Fachkollegen anzog. Er praktizierte eine hochaufwändige, selbst entwickelte Methode um seine menschlichen, tierischen und pflanzlichen Präparate perfekt zu konservieren. Keinerlei Zeichen von Verfall soll man ihnen angesehen haben. Dieses „kleine Museum“ war so begehrt, dass Zar Peter der Große es 1717 für die stattliche Summe von 30 000 Gulden erwarb. Zudem war Frederik Ruysch Leiter des botanischen Gartens, der neben einheimischen Pflanzen auch Gewächse aus Übersee kultivierte. Rachel hatte dort jederzeit Zutritt. Der in ihrer Familie offenkundige Forschergeist prägte somit auch ihre eigene künstlerische Tätigkeit. Neben allem Schönheitssinn ging sie mit wissenschaftlichem Ehrgeiz zu Werke, wenn sie z.B. Schmetterlinge nicht nur als Anschauungsobjekte nutzte, sondern die Tiere in die noch feuchte Farbe drückte, um Struktur und Kontur genauestens nachbilden zu können.
„Schlangen und Eidexen verlieren ihre Häßlichkeit, oder doch das Widrige in der Natur, wenn sie von dem Pinsel der berühmten Rache Ryusch (…) vorgestellt werden.“
Hieronymus Andreas Mertens
Durch geschicktes Marketing und beste vom Vater geknüpfte Kontakte, der das Talent seiner Tochter früh erkannte und Zeit seines Lebens nach Kräften förderte, wurde Rachel Ruysch zur Hofmalerin des Wittelsbacher Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz ernannt. Ein Bild pro Jahr hatte sie zu liefern, im Gegenzug erhielt sie ein überaus fürstliches Jahresgehalt sowie wertvolle Geschenke. Als Zugabe kamen die Entbindung von der Residenzpflicht bei Hofe, Empfehlungen an die kunstsinnigsten Höfe Europas sowie die Übernahme des Patenamtes durch den Fürsten für eines ihrer 10 Kinder hinzu. Liest man den Lebenslauf der Rachel Ruysch mit heutigen Augen, meint man wirklich ein Sonntagskind vor sich zu haben. Das gebildete wohlhabende Elternhaus, das die künstlerischen Ambitionen der Tochter stets unterstützte, die vermutliche Liebesheirat mit einem aus armen Verhältnissen stammenden Porträtmaler, 10 Kinder, die der Karriere offensichtlich nicht im Wege standen, ein langes Leben, das Hofamt sowie der künstlerische Erfolg waren eine Aneinanderreihung von glücklichen Fügungen in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Unsicherheiten. Gekrönt wurde dieser Lebenslauf durch einen Hauptgewinn in der Lotterie im Jahr 1723.
Fast könnten wir versucht sein, jene so beneidenswert vom Schicksal bevorzugte Persönlichkeit in ihren Bildern sich widerspiegeln zu sehen. Die anmutigen Kompositionen erzählen von Ruyschs Gabe, das große Ganze mit dem kleinsten Detail in perfekter Harmonie zu verbinden. Die Vielheit in der Einheit, die schon in der Renaissance als künstlerisches Qualitätskriterium galt, durchdringt ihre Blumenbouquets, an denen nichts verändert werden könnte, ohne dass das Gesamtbild gestört würde. Nie liegt ihren Bildern eine lediglich oberflächliche Übernahme des Gesehenen zugrunde. Ihr Sinn für Ästhetik fußt auf wissenschaftlicher, durchdringender Kenntnis der Materie. Stets zeugt ihre abbildende Beschäftigung mit der Schönheit vom ernsthaften Studium, ihrem Respekt und einem tiefen Verständnis für die von der Natur geschenkte Anmut und Eleganz: das leichte Schimmern der zartesten Blütenblätter mit welchem die Malerin jedes Betrachterauge stets zu betören weiß; die üppige Sinnlichkeit mit der sich voll erblühte Rosen dem Betrachter leuchtend entgegenstrecken; die fragilen Insekten, die sich immer wieder zwischen den Blumenbouquets verstecken und sich erst nach eingehender Betrachtung offenbaren, um mit ihrer kleinen Lebendigkeit eine melancholische Erinnerung der Vergänglichkeit zu geben.
All diese Begabungen und Fertigkeiten der Künstlerin weiß die schöne Schau in München wunderbar vor Augen zu führen und macht dabei auch deutlich wie sich die Kompositionsweise und Anordnung der Arrangements im Laufe der Zeit verändern. Zu Beginn noch tastend, an den Bildern des berühmten Lehrers Willem van Aelst geschult, entfalten sich in den mittleren Jahren von Rachel Ruyschs Laufbahn üppigste Prachtgebinde, bis in den letzten Jahren das zartere, verspieltere Rokoko mit einer aufgehellten Farbpallette Einzug hält. Alle Bilder, ob luxuriös, überbordend oder fragil in der Komposition, sind von der Künstlerin mit talentierter Hand arrangiert. Nur der oberflächliche Betrachter würde so naiv sein diese feinmalerischen Kunststücke lediglich als reine Abbilder einer vorliegenden Wirklichkeit zu verstehen. In Wahrheit sind sie genau das, was, laut Goethe, alle Meisterwerke der Kunst auszeichnet: eine von Künstlerhand zum Ideal erhobene Natur.