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Gedanken zu Ausflügen nach Frankfurt und München

Renaissance im Norden. Holbein, Burgkmair und die Zeit der Fugger im Städel Frankfurt
Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei in der Alten Pinakothek München

Selten kulminierten in der westlichen Menschheitsgeschichte die kulturellen Leistungen in einem solchen Ausmaß wie in der Zeit um 1500. Meist richtet sich der Blick auf das scheinbar unübertroffene Dreigestirn Michelangelo, Raffael und Leonardo, das in Rom jene Werke schuf, die bis heute als Inbegriff der Hochrenaissance schlechthin gelten. Gleich zwei Ausstellungen in Frankfurt und München widmen sich nun jener Zeit, lenken die Aufmerksamkeit jedoch gen Osten und Norden. Venedig und Augsburg werden in den Fokus gerückt und zwar anhand einzelner Künstler, die der Renaissance jenseits von Rom ein ganz eigenes Gepräge gaben. Wie erstaunlich rege sich der Austausch gestaltete, wie verknüpft die kulturellen Entwicklungen waren, wie künstlerisch innovativ Tradiertes zu jener Zeit verhandelt wurde, zeigt bereits eindrücklich das erste Exponat der Frankfurter Ausstellung –  Albrecht Dürer darf die Schau eröffnen, was das Herz der fränkischen Kunsthistorikerin natürlich hoch erfreut.


Mit Farbenpracht wird der Besucher empfangen, dessen Auge nach langen dunklen Februartagen etwas müde geworden ist. Dürer hatte sein Rosenkranzfest (eine würdige historische Kopie ist hier in Frankfurt zu sehen) für den Fondaco dei Tedeschi, die deutsche Handelsniederlassung in Venedig, geschaffen. 1505 war der Nürnberger in die Lagunenstadt gereist und wurde mit diesem Bild auch jenseits der Alpen schlagartig berühmt. Selbstbewusst schrieb er an seinen Freund Willibald Pirckheimer: „Ich teile Ihnen mit, dass es kein besseres Marienbild im ganzen Land gibt als das meine.“ Hatte ihm doch stets der Ruf angehaftet, dass er zwar ein brillanter Grafiker sei, aber kein ebenso begabter Maler. Nun berichtet er stolz: „Jetzt spricht jedermann, sie haben schönere Farben nie gesehen.“ Indem er über die klare, herbe Strenge der Kompositionsstruktur venezianischen Farbenglanz legte, indem er lyrische Landschaft, italienische Putten und Laute spielende Engel auf die Detailgenauigkeit und Oberflächenfinesse des Nordens treffen ließ, war Dürer das Meisterstück gelungen, eine hochästhetische Konjunktion von nördlicher und südlicher Kunst zu schaffen.


Hundert Jahre später erwarb Kaiser Rudolf II. das Bild nach langwierigen Verhandlungen mit der Kirchengemeinde San Bartolomeo und der Familie Fugger. Diese Familie, die die Blüte und den Wohlstand Augsburgs maßgeblich gefördert hatte, gehörte auch in Venedig zu den wichtigsten Protagonisten der deutschen Händlerschaft. Bis heute erzählt in Augsburg die prachtvolle Begräbniskapelle an der Sankt Annenkirche von ihrem Ansehen und Selbstbewusstsein, genauso wie von ihrem Kunstverstand. Die Fuggerkapelle gilt als erster Bau nördlich der Alpen, der italienische Renaissance Elemente aufgreift. Der lichte Raum mit den offenen Arkaden, den bogenförmigen Wandfeldern und schmückenden Putten ist nach venezianischem Vorbild gestaltet, während das sternförmige Rippengewölbe der Decke die nördliche Spätgotik repräsentiert. Die malerische Ausstattung war ebenfalls vom mittelalterlichen Erbe geprägt, wie die vier im Städel gezeigten Flügelgemälde des Jörg Breu bezeugen, die Jacob Fugger für die kleine Orgel der Kapelle hatte anfertigen lassen.

Auch Hans Holbein der Ältere fühlte sich dieser Tradition noch mehr verpflichtet als den italienischen Neuerungen seiner Zeit. Weit mehr Werke als von seinem weitaus berühmteren, weil sehr viel innovativeren Sohn, sind hier in Frankfurt zu sehen. Ein kleines Täuschungsmanöver könnte man den Kuratoren in der Vermarktung der Ausstellung deshalb unterstellen. Der Titel „Holbein und die Renaissance im Norden“ in Verbindung mit der berühmten Darmstädter Madonna von der Hand Holbeins des Jüngeren, lässt nicht vermuten, dass die Schau sich vornehmlich auf den Vater, Holbein den Älteren, sowie dessen großen Antagonisten Hans Burgkmair konzentriert. Wobei für Letzteren nicht die niederländisch-mittelalterliche Tradition vorbildhaft war, sondern Italien. Obwohl quellentechnisch nicht nachweisbar, geht die Forschung aufgrund der erhaltenen Werke dennoch davon aus, dass Hans Burgkmair, einer der berühmtesten und angesehensten Maler jener Zeit, in Venedig gewesen sein muss. Burgkmair kommt neben Dürer als einem der ersten Künstler das Verdienst zu, die südlichen Neuerungen jenseits der Alpen rezipiert zu haben. In der Ausstellung in Frankfurt ist er unter anderem mit einem prächtigen Historiengemälde vertreten, das er für den kunstsinnigen bayerischen Herzog Wilhelm IV. gemalt hatte. Seine Esther kniet vor einer opulenten Architekturkulisse vor ihrem Ehemann Ahasver, der ihr mit großmütiger Geste die Todesstrafe erlässt. Luxuriös ist diese Szenerie ausgestattet. Die Juwelen funkeln, die Stoffe schimmern, ja selbst das Licht wirkt golden, als sei es direkt aus Italien importiert.


Am eindrücklichsten zeugt jedoch ein Gemälde von der fruchtbaren Begegnung nördlicher und südlicher Kunst, das bis vor einigen Jahren sogar dauerhaft in Frankfurt zu sehen war. Die „Darmstädter Madonna“ ist nun für die Ausstellung eigens aus der Sammlung Würth wieder in seine alte Heimat gereist und bildet ohne Zweifel die Hauptattraktion der Ausstellung. Hans Holbein der Jüngere, ihr Erschaffer, wurde in Augsburg zusammen mit seinem Bruder beim Vater ausgebildet, der ihm vorbildhaft die Feinheiten der niederländischen Kunst vermittelte. Später ging er nach Basel und wurde dort rasch erfolgreich, blieb aber doch ein Reisender. Zwischen einem Aufenthalt in Frankreich, wo er Werke italienischer Künstler studieren konnte und seiner ersten Englandreise schuf er dieses hochberühmte und ungemein fesselnde Gemälde. Jacob Meyer zum Hasen beauftragte den Künstler mit einem Bild, das einem Statement gleichkam. Es stellt die Muttergottes als Himmelskönigin dar, die ihren Schutzmantel um die Stifterfamilie breitet. Die Wahl einer katholischen Bildikonografie weist den ehemaligen Bürgermeister von Basel in Zeiten der bilderstürmenden Reformation als Altgläubigen aus, der aufgrund seiner Haltung später ins Exil nach Freiburg fliehen musste. In der Darstellung Holbeins kniet der Auftraggeber lebensnah mit geröteten Wangen und Bartschatten vor der Madonna. Seine Hände sind gefaltet, der Blick erwartungsvoll fromm nach oben gerichtet. Ihm gegenüber sind, getreu der heraldischen Tradition, die weiblichen Mitglieder der Familie versammelt: Jacobs verstorbene erste Gattin, sowie die zweite Ehefrau mit der gemeinsamen Tochter Anna. Lang und aufwändig gestaltete sich die Arbeit an diesem Gemälde. Musste der Maler nach seiner Rückkehr aus England doch das Aussehen der beiden Frauen den veränderten Gegebenheiten anpassen. Die Tochter, mittlerweile verlobt, trägt nun ein Jungfernschapel unter dem die Haare verborgen werden. Die das Gesicht verdeckende Kinnbinde der Dorothea Kannegießer ist durch eine dem Zeitgeschmack entsprechende modischere Kopfbedeckung ersetzt worden.


Hauptfigur des Bildes ist aber jene Maria, die auf einzigartige Weise Göttliches mit Menschlichem verbindet. Sanft neigt sie das ernste ovale Gesicht ihrem Jungen zu, der ungewöhnlich gestenreich agiert. Als wolle das Kind sein bevorstehendes Schicksal abwenden, hat es den kleinen Arm abweisend nach unten gestreckt, während es das Köpfchen gegen die Brust seiner Mutter drückt. In völliger schutzloser Nacktheit wird es dem Betrachter präsentiert. Meisterhaft verwoben zeigen sich in diesem Gemälde nördliche und südliche Einflüsse: die Muschelkalotte, die die Muttergottes umrahmt, spricht für die Kenntnis italienischer Ornamentik. Die grandiose, akkurat beherrschte Untersicht des bewegten Jesuskindes, die großzügig angelegte Komposition mit exakter Perspektivbeherrschung sowie die sfumatohafte Weichheit der Gesichtszüge der Himmelskönigin sind vermutlich den Bildern Leonardos und seiner Nachfolger entlehnt, ebenso wie die geheimnisvollen kleinen Jungen am vorderen Bildrand, die bis heute keine wirklich schlüssige Deutung erfahren konnten. Stofflichkeiten, Oberflächen, klarer Lichteinfall aber auch die lebendige Frische der Gesichter zeugen vom exakten Studium einer nordischen Renaissance, die, vermittelt durch niederländische Einflüsse, in der väterlichen Werkstatt äußerst präsent war. Anders als Hans Burgkmair, der den italienischen Stil eher folgsam aufgreift, nimmt Holbein der Jüngere die Vielfalt der Vorbilder mit auf seine ausgedehnten Reisen und verbindet sie zu einem hochindividuellen Stil, der vermutlich nur in dieser so besonderen Zeit um 1500 möglich war.


Kein Zufall ist es, dass Dürer und Holbein der Jüngere mit ihren Bildern die Schau im Städel eröffnen und beschließen. Sind sie doch diejenigen Künstler, die die hervorragenden Ausgangslagen ihrer Heimatstädte zu nutzen wussten, wie niemand sonst. Wohlhabende, bestens vernetzte Auftraggeber, die bereit waren, sich auf Neues einzulassen, genaueste Kenntnisse der heimatlichen malerischen Tradition, die Bereitschaft das Auge auf Reisen zu bilden, Neues zu erkennen sowie das überaus große Talent, eine individuelle Synthese aus all diesen äußeren Einflüssen und inneren Ideen zu erschaffen, machen ihre Kunst so einzigartig.

In München, wo die Neuerungen der venezianischen Kunst in einer eleganten Schau gefeiert werden, geht die malerische Revolution etwas sanfter vonstatten. Hier sind diejenigen zu bewundern, die einige Jahre später von ihren nördlichen Kollegen so erfolgreich wie individuell anverwandelt wurden. Auf die noch gar nicht so lange etablierten Gattungen der Bildnismalerei und der Landschaftsdarstellung hat man sich in der Alten Pinakothek spezialisiert. Werke sind zu entdecken, die auf besondere Weise eine neue Art der künstlerischen Weltsicht vermitteln. Bis heute entfalten sich vor dem inneren Auge nur beim Klang der Namen Bellini, Giorgione oder Tizian arkadische Landschaften und verträumt blickende Jünglinge und Mädchen. Wie anders schauen jene Italienerinnen und Italiener mit ihrem stets leicht verhangenen, häufig auch über die Schulter gerichteten Blick, dem Betrachter entgegen als all die stolzen, wohlhabenden Kaufleute aus Augsburg. Ein Hans Holbein der Ältere fackelt deshalb nicht lange, wie ein Werk seiner Hand im Städel nachdrücklich beweist. Das Porträt eines mit äußeren Vorzügen nicht sonderlich gesegneten jungen Mannes aus der Familie Weiß, versieht er mit dem nüchternen Hinweis: Not leidet er nicht. Funktion und Absicht sind deutlich formuliert. Hier wird eine standesgemäße Ehefrau gesucht und schließlich auch gefunden. Hans Burgkmair hat die seine schon gefunden. Von radikaler Schonungslosigkeit ist das Altersporträt, das er von sich und seiner Ehefrau gemalt hat. Gemeinsam blicken sie in einen Handspiegel, der ihnen jedoch nicht ihre Gesichter, sondern zwei Totenköpfe zurückwirft. Alter, Vergänglichkeit und Tod sind die Themen des Daseins. Während man in Augsburg zu sagen scheint, „das bin ich!“, fragen die Venezianerinnen und Venezianer in München geheimnisvoll: „Wer könnte ich sein in Deinen Augen?“ Undenkbar wäre auf einem der südlichen Porträts eine Inschrift, die unverblümt den eigenen monetären Reichtum darlegt oder nüchtern die Hässlichkeit des Verfalls offenbart. Hier wird am Antlitz und an der Gestalt viel Angenehmeres verhandelt. Hier geht es um Geistesreichtum, Sehnsucht, Liebe, (Selbst)erkenntnis oder das neu definierte Gefühl zur Natur, vor allem aber um die Schönheit, jene Größe, die nahezu das gesamte Denken, Fühlen und Leben zu bestimmen schien. Eine eigenständige Bildgattung hat sich dieser Motivik gewidmet: le belle donne. Nicht müde werden sowohl Dichter als auch Maler die weibliche Schönheit zu feiern, ja ihr regelrecht zu dienen. Ganze Abhandlungen wie der Dialogo delle bellezze delle donne von Agnolo Firenzuola sind darüber verfasst worden. Sichtbare menschliche Schönheit sei nicht nur ein Widerhall der göttlichen Schönheit. Im Umkehrschluss vermag der Anblick derselben auch zur Erkenntnis des Guten und Göttlichen führen. In der Synthese mit der Neuentdeckung antiker Sinnlichkeit leitete sich darüber hinaus ein neues Qualitätskriterium für die Malerei ab. Ein Bild sollte in der Lage sein, im Betrachter die Affekte der Liebe, wie auch die Sehnsucht und das Begehren zu erwecken. Völlig zweitrangig scheint hierbei die Frage, ob es reale Frauen waren, die Modell für die hinreißend anmutigen Damenbildnisse gestanden haben. Ein weiterer Aspekt des Kunstschaffens kommt zu jener Zeit in Venedig nämlich in Mode: die Phantasie. Zum ersten Mal taucht der Begriff zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Italien auf. Nicht der Wirklichkeit sind die Maler demnach verpflichtet, sondern einer ihrem eigenen Geiste entsprungenen Idealität.


Dieser Ansatz zeigt sich auch in den Landschaftsdarstellungen. Nicht mehr länger nur Kulisse sind die Wiedergaben der Natur im Hintergrund der – gerne auch heiligen Szenerien – sondern inhaltlich konstituierender Bestandteil der Werke. Die Sehnsucht nach der Natur, der terra ferma, war den Venezianern quasi in die Wiege gelegt worden. Selbst heute noch wünscht sich das Auge nach wenigen Tagen in der wenn auch noch so bezaubernden Stadt in der Lagune freie, weitläufige Landschaften, die dem Blick ein Umherschweifen gestatten. Ins feine Interieur des studiolo, dem zum Studium und der Muße eingerichteten Zimmer der vornehmen Venezianer, hängte man sich die zauberhaft sfumatohaften Landschaften. Sehnsuchtsvoll konnte man sich so ins von den antiken Schriftstellern Vergil oder Theokrit beschriebene Arkadien träumen. Es war ein geistiger Eskapismus par excellence. Der virtuose Umgang der venezianischen Maler mit den europaweit gerühmten Farbpigmenten ließ eine fiktive Gegenwart entstehen, die einem „denkenden Schauen“ die Türen zwar öffnet, das Geheimnis der Bilder jedoch niemals gänzlich verrät. Zielen jene rätselhaften Gemälde doch weder rein auf den Verstand des Betrachters, indem konkrete Inhalte dargelegt werden, noch wollen sie die Realität abbilden. Ihr Anliegen ist es vielmehr die empfindende Sinnlichkeit der Sinne anzusprechen, den ästhetischen Genuss zu stillen und die Vermittlung eines bestimmten Gefühls zu fördern. Schmelzend, von verführerischer Zartheit und unnachahmlicher Weichheit erscheint die Oberfläche dieser Gemälde. Poesie nannte man jene erzählenden Werke, deren Reiz auch in ihrer Offenheit, ihrer vaghezza begründet liegt, und die sich einer eindeutigen Interpretation jedes Mal wieder behutsam zu entziehen vermögen.


Welchen Zauber Venedig um 1500 vor allem auch auf Zugereiste ausübte, hat keiner schöner beschrieben als Albrecht Dürer. Am Herzen tut es ihm sanft, sich in der vornehmen Gesellschaft all der Gelehrten, Künstler, Musiker und Kunstkenner von edlem Gemüt und rechter Tugend zu bewegen. Welch große Wertschätzung den Künstlern in diesem Umfeld entgegengebracht wurde, da sie Bilder schufen, deren Anforderungen der hochsensiblen und gebildeten Kultur jener Zeit entsprachen und natürlich weit über das Handwerkliche hinausgingen, schrieb er von einem imaginären Seufzen untermalt seinem Freund Pirckheimer ins fränkische Nürnberg: Hier bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer.


www.staedelmuseum.de

www.pinakothek.de/de/venezia500

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