top of page

Gedanken zu einer Reise nach New York – Zweiter Teil

The Empire State Building, The Morgan Library, Neue Galerie, The Cloisters, Frick Collection Madison

„New York hat etwas, das Schlaf nutzlos macht.“ Nach Atlantiküberquerung und nächtlicher Ankunft in Kälte und Dunkelheit stimme ich der sonst so klugen Simone de Beauvoir nicht zu. Sechs Stunden Zeitverschiebung verstecken sich wie unsichtbare Kilos in meinen Manteltaschen. Insgeheim gräbt sich der Gedanke durch die Müdigkeit, warum ich mir das eigentlich antue. Kein einziges Mal wird er noch einmal auftauchen in den folgenden Tagen. Am nächsten Morgen strahlt die Sonne vom grellblauen Himmel, die gelben Taxis biegen ums Eck, der Central Park liegt genauso im Herzen der Stadt, wie man sich das vorstellt nach all den Woody-Allen-Filmen und ungezählten Staffeln Sex and the City. Wir sind in New York und es ist berauschend.


Ich bin der festen Überzeugung, dass es keine andere Stadt gibt, die in so vielen Zitaten charakterisiert, von so vielen Filmen gefeiert und in so vielen Liedern besungen wird wie New York. Vermutlich gibt es wenige Orte auf der Welt, die bereits allein beim Klang ihrer Namen so viele Bilder im Kopf entstehen lassen wie New York. Allein die schiere Größe verweist hier jeden Einzelnen auf seinen Platz, macht aber auch deutlich, wozu der Mensch fähig ist, wenn er seinem Tun und Denken keine Grenzen setzt. Das Empire State Building bringt jene Widersprüchlichkeit auf den Punkt. In gerade einmal einem Jahr erbaut, war es mit seinen 443 Metern von 1931 bis 1972 das höchste Gebäude nicht nur New Yorks, sondern der Welt. Noch im Stile des Art déco erbaut, mit einer gigantischen Marmorlobby ausgestattet, feiert es sich selbst mit einem Wandbild im Eingang als achtes Weltwunder. Um allzu große Schattenbildung auf den umliegenden Häusern zu verhindern, gilt bis heute die Vorschrift, dass sich Wolkenkratzer ab einer gewissen Grundfläche stetig nach oben hin verjüngen müssen. Was aus pragmatischen Gründen vorgegeben ist, bewirkt in den meisten Fällen eine trotz der Mauermassen elegante Optik. Wie könnte es anders sein: Der Blick von oben ist überwältigend. Als eine andere Dimension erscheint das irdische Treiben am Boden, zu dem man ja nur wenige Minuten später selbst wieder gehören wird. So ist das in New York. Hier existiert die Welt in allen Maßstäben.


Unsere nächste Station könnte andersgearteter nicht sein. Hier wird das gedanklich Große im Kleinen gefeiert. Die Welt ist ein Buch, schrieb schon Augustinus. John P. Morgan holte sie sich in Form hunderter Exemplare in seine eigens dafür gebaute Bibliothek. Bis heute erzählt sie von der großen Leidenschaft Morgans, der in Europa u.a. in Göttingen studiert hatte, nach seiner Rückkehr nach Amerika ein riesiges Wirtschaftsimperium aufbaute und zu einem der einflussreichsten Privatbankiers seiner Zeit wurde. Um 1890 begann er mit dem Erwerb bedeutender und wertvoller Manuskripte vor allem des Mittelalters und der Renaissance sowie von Autographen, Handzeichnungen und seltenen Büchern in kostbaren Einbänden. Für die ständig wachsende Sammlung ließ er neben seinem Wohnhaus eine eigene Bibliothek bauen. Als wäre es nicht ausreichend gewesen, das geistige Erbe Europas in Büchern nach Amerika zu bringen, erschuf Morgan auch einen passenden Palast für seine Schätze. Im Stile der italienischen Renaissance ließ er das Bibliotheksgebäude errichten. Form und Inhalt, Sein und Erscheinung sind aus einer symbiotischen Verbindung erschaffen. Mitten in Manhattan trifft man auf ein kleines Fleckchen Italien.

Mitten in Manhattan gibt es aber noch sehr viele weitere Möglichkeiten auf Europa zu treffen. Gleich ums Eck des Guggenheim Museums liegt die Neue Galerie. Ronald Lauder, ein weiterer sehr reicher Mann, frönt hier ebenfalls seiner besonderen Leidenschaft. Ausschließlich österreichische und deutsche Künstler vom Beginn des letzten Jahrhunderts nimmt er in seine hochexquisite Sammlung auf. Neben Kokoschka, Kandinsky und Kirchner zählt Klimt zu seinen besonderen Lieblingen. Die wunderbare goldene Adele fand hier nach einem entwürdigenden Rechtsstreit des Wiener Belvedere mit den rechtmäßigen Erben des Bildes ein würdevolles Zuhause. Zur Zeit der Nazidiktatur war das Gemälde enteignet worden, konnte in einem Aufsehen erregenden Prozess aber seiner Eigentümerin zurückgegeben werden, die es 2006 für die sagenhafte Summe von 135 Mio. Dollar an Lauder verkaufte. Adele Bloch-Bauer ist nicht nur aufgrund ihres Preises die Diva unter all den anderen so bezaubernden Damen von der Hand des großen Künstlers. Sie strahlt und funkelt mit einer Erhabenheit, wie sie nur Klimt den Frauen zu verleihen vermochte.


Eine weitere ebenso faszinierende Person wird in der Galerie gerade dem Publikum vorgestellt. Welch eine Freude auch jenseits des Atlantiks Klimts Lebensfreundin, die einzigartige Emilie Flöge, anzutreffen und gewürdigt zu finden. Sie ist der heimliche Star der gegenwärtigen Sonderausstellung, die sich den Landschaftsgemälden des Künstlers widmet. Während der langen sommerlichen Aufenthalte am Attersee, die Klimt stets in Gesellschaft seiner modeaffinen Gefährtin verbrachte, entstanden die heute so berühmten quadratischen Landschaftsbilder. Sie zeugen von Klimts wachem Auge, das die zugrundeliegende Ordnung der Natur – die doch ihre Schönheit erst ermöglicht – ornamenthaft erkannte. Sein malerisches Talent verlieh ihr eine adäquate Form. Rührend sind die Versuche der Kuratoren auf den Begleittafeln dem amerikanischen Publikum die in Europa zu jener Zeit so beliebte Mode der „Sommerfrische“ zu vermitteln. So klein die Ausstellung auch ist, man verlässt sie mit dem Gefühl, ganz kurz einen Blick auf Gustav und Emilie erhascht haben zu dürfen und ganz flüchtig nur an einem der Liegestühle vorbeigegangen zu sein, die auf den reizend unscharfen Schwarzweißfotos die Besonderheit jener Tage so betörend einzufangen vermochten.


Was der Schau in der Neuen Galerie mit leichthändiger Nonchalance gelingt, wird anderorts mit Anstrengung versucht, muss aber dort letztlich nur Kulisse bleiben. Einige Kilometer außerhalb wurde Anfang der 1930er Jahre mit größter finanzieller Unterstützung von John D. Rockefeller eine Zweigstelle des Metropolitan Museums errichtet. Um den Kunstwerken des 9. bis 15. Jahrhunderts einen passenden architektonischen Rahmen zu geben, entstand ein Kloster im europäisch-mittelalterlichen Stil. Wenige Versatzstücke wie Kapitelle, Bögen oder eine ganze Apsis, vornehmlich aus französischen oder spanischen Bauten setzte man wie Spolien ein. Merkwürdig deplatziert wirkt dieses neue alte Gebäude auf dem Hügel über dem Hudson River. Lässt sich in Ausstellungsinstitutionen die Diskrepanz zwischen genuiner Herkunft und Entstehung der Objekte und ihrem jetzigen Präsentationsort oft gerade dadurch ertragen, dass der letztlich konstruierte Museumskontext dezidiert betont wird, geschieht hier genau das Gegenteil. Fremd, fast ungehörig an diesem nachahmenden Ort wirken die hölzernen Marienfiguren von Tilman Riemenschneider und seinen Zeitgenossen in dieser künstlich erzeugten Umgebung. Traurig und verloren scheint mir das Fragment eines kleinen Engels aus der Kathedrale von Saint Lazare in Autun so viele tausend Kilometer von seinem Heimatort entfernt. Lediglich der in seiner Innovationskraft überragende Mérode-Altar, der auf wenigen Quadratzentimetern nicht nur die Kunst, sondern auch das Leben und Denken der Menschen jener Zeit um 1430 auf atemnehmende Weise zu vermitteln vermag, behauptet sich in seinem Raum. Mit größter Kreativität hat der Künstler in diesem Triptychon die Herausforderung gemeistert, die reale Wirklichkeit mit dem Heiligen zu verbinden. Im vornehmen spätmittelalterlichen Interieur wirft zum Beweis seiner tatsächlichen Existenz der blank geputzte Kessel gleich zwei Schatten. Die Dinglichkeit der Gegenstände, die Stofflichkeiten und Oberflächen werden in höchstem Maße betont, um das hier stattfindende göttliche Geschehen zu bezeugen: der Moment von Marias Empfängnis des Gottessohnes durch das Wort des Verkündigungsengels Gabriel. Robert Campin löst diese Problematik, wenn eine auf die Wirklichkeit ausgerichtete Malerei mit dem Heiligen konfrontiert wird und das Himmlische ins Gegenwärtige integriert werden muss, auf einzigartige Weise. Durch das lichtspendende Fenster fliegt ein winziges Jesuskind samt Kreuz von einem göttlichen Strahl begleitet direkt in den Bauch der Jungfrau. Irdisches mit Mystischem zu verknüpfen war eine Fähigkeit, die jene Epoche der unsrigen sicherlich voraushatte. Wir nehmen Abschied von diesem seltsamen Ort mit einem Blick auf die gleichwohl eleganten wie rätselhaften Tapisserien, die von einem wunderschönen, aber geheimnisvollen weißen Einhorn erzählen.

Nahezu zeitgleich wie Rockefeller diesen Bau finanzierte, war ein weiterer schwerreicher Mann auf die Idee gekommen, seiner Kunstleidenschaft ebenfalls durch ein prächtiges Gebäude Ausdruck zu verleihen. Henry C. Frick, ein äußerst vermögender Industrieller, hatte auf einer seiner Europa Reisen die in London ansässige Wallace Collection besucht. (Siehe hierzu den Beitrag im Archiv: Gedanken zu einer Reise nach England erster Teil – London) Jener zur Präsentation einer umfangreichen Kunstsammlung errichtete Bau, begeisterte ihn so sehr, dass er an der 1 East 70th Street ein aufwändiges Gebäude errichten ließ, das nicht nur als repräsentatives Wohnhaus, sondern auch als großartiger architektonischer Rahmen für seine Kunstsammlung von Weltrang diente. Derzeit wird dieses jedoch umfassend renoviert, sodass die Glanzstücke der Kollektion in einem Haus an der Madison Avenue gezeigt werden, das von Marcel Breuer noch im Stile des Brutalismus errichtet worden ist und früher das Whitney Museum beherbergte. Es ist der einzige Wermutstropfen auf dieser Reise. Fühlte man sich im originären Gebäude wie in eine Idealversion des alten Europa versetzt, in dem gerade die zahlreichen Meisterwerke der Rokokomalerei in begeisternder Weise zur Geltung gebracht wurden, setzt mir nun der Kontrast aus der Härte des Baus und dem Schmelz der Bilder schon sehr zu. Aber natürlich vermag die Überzeugungskraft der Kunstschätze auch hier zu wirken. Ergriffen stehen wir vor Bellinis Hl. Franziskus, der die Stigmata empfängt. Erschauern darf man immer noch vom unbeugsamen Willen des Thomas Morus, der für seinen Glauben starb, und den Holbein in unwiederholbarer Weise darstellte. Von arroganter Verführungskunst zeigen sich die schönen Jünglinge eines Tizian und Bronzino, die mit ihrem Gegenüber gar nicht anders können als zu flirten. So unsagbar neugierig wäre man zu wissen, womit der Soldat wohl das feine Vermeer-Mädchen zum Lachen bringt, sehen wir von ihm doch nur die Rückansicht und seinen großartigen Hut während uns seine Begleiterin mit ihrer Heiterkeit erfreut. Gleich drei Gemälde von der Hand dieses Meisters hat Frick erworben. Sie sind nur ein Beispiel für den untrüglich erstklassigen Geschmack dieses Geschäftsmannes, der eine Sammlung von Weltrang anlegte. 131 Meisterwerke gehören zum Grundbestand, der später noch erweitert wurde. Streng sind die Regelungen, die der Kollektion obliegen bis heute. Die Bilder des ursprünglichen Bestandes dürfen das Haus nicht verlassen (eine Ausnahme macht man im Moment nur wegen der notwendigen Renovierungsarbeiten), Kinder unter 10 Jahren haben keinen Zutritt, zudem herrscht strenges Fotografierverbot. Selbstverständlich können uns all diese Vorschriften nichts anhaben. Spätestens im Raum der betörenden Bilder, die eine berühmt berüchtigte Mätresse Ludwigs XV. bestellte, ist jeder Hauch von Unmut verschwunden. „Die Entwicklungen der Liebe“ stellte der französische Rokokokünstler Fragonard in Anspielung auf die Beziehung Jeanne du Barrys mit dem König in zarten Genregemälden dar. Die Serie, die durch kleinere Szenen mit Amorputten ergänzt wird, sollte einen Pavillon ihres Schlosses in der Nähe von Paris schmücken. Nach der Fertigstellung hatte Madame jedoch ihre Meinung geändert. Sie wies die Arbeiten zurück. Fragonard behielt seine Bilder über 20 Jahre in seinem Besitz. Es scheint mir ein kapriziöser Akt von Willkür, solch zauberhafte Werke erst in Auftrag zu geben, um sie dann nicht haben zu wollen. Ihre Vorgängerin Madame de Pompadour war in dieser Hinsicht verlässlicher. Ihr Mäzenatentum war legendär. Bilder ihrer Auftraggeberschaft befinden sich ebenfalls in der Frick-Collection. Es sind vier bezaubernde ovalförmige Szenen, die als Supraporten eine ihrer Residenzen schmückten. Auch was die Thematik anbelangt war die Marquise pragmatischer: nicht die unwägbaren Entwicklungen der Liebe wählte sie zum Programm, sondern die vier Jahreszeiten. Besonders die Darstellung des Winters mit seiner liebreizenden Schlittenpartie kann einfach nur entzücken. Trotz der Kälte ist die Dame natürlich extravagant mit Muff, pelzgesäumtem rosa Capemantel und goldenen Pantöffelchen stilsicher gekleidet, während ihr Begleiter das von einem goldenen Schwan geschmückte Gefährt über die Schneedecke gleiten lässt.


„Zum Gebrauch und Wohlbefinden von jedermann“, wollte Frick seine Sammlung verstanden wissen. Selbst im nüchternen Breuer-Bau ist ihm das gelungen. Es ist einer dieser Orte, an dem man sich nicht satt sehen kann und im letzten Raum das unstillbare Bedürfnis hat, sofort beim ersten wieder zu beginnen. Aber selbst in einer Stadt, die den Schlaf, wenn nicht nutzlos, so doch etwas unwichtiger macht, sind die Tage einer Reise irgendwann gezählt. Vielleicht sind sie auch deshalb so rasch vergangen, weil hier – wie die äußerst kluge Simone de Beauvoir diesmal sehr richtig feststellte – das Herz etwas schneller schlägt als anderswo.


https://www.esbnyc.com

https://www.themorgan.org

https://www.neuegalerie.org

https://www.metmuseum.org/visit/plan-your-visit/met-cloisters

https://www.frick.org

bottom of page