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Gedanken zu einer kurzen Reise nach Madrid

Museo Thyssen-Bornemisza, Museo del Prado
Picasso, Chanel, Tizian, Rubens, Velázquez

Gründe  nach Madrid zu fliegen gibt es sicherlich tausende. Wir jedoch nahmen  ein einzigartiges Ausstellungsereignis zum Anlass. Bis zum 15. Januar  war im Museo Thyssen-Bornemisza die fabelhafte Schau „Picasso/Chanel“ zu  sehen. Überlegte man vor Ausstellungsbesuch noch aus welcher  Perspektive wohl diese kunstreiche und sich gegenseitig befruchtende  Beziehung gezeigt werden würde, war das tatsächliche Erleben schlichtweg  hinreißend. Selten haben Kuratoren auf so einnehmend elegante Weise ein  solch komplexes kulturhistorisches Thema derart sorgsam durchdacht.

Die leise Befürchtung, es würde lediglich auf offensichtliche  phänotypische Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen zwischen Kunst und  Kleid abgezielt, erweist sich bereits im ersten Raum als unbegründet.  Mit sinnfälliger Selbstverständlichkeit behaupten sich die kleinen  schwarzen Kleider neben den bereits in die Abstraktion wandernden  Bildern Picassos. Vornehm wird die optische Sprache der 1920er Jahre  intuitiv verständlich. Wie ein Gespräch, das statt aus Buchstaben,  Wörtern und Sätzen aus Farben, Oberflächen, Strukturen, Formen und  Linien besteht, wirkt die Kommunikation der beiden Künstlergenies in  ihren Werken. Picassos synthetischer Kubismus, der aus vielen Teilen ein  harmonisches Ganzes bildet, findet in der kongenialen Schnittkunst  Gabrielle Chanels ein würdiges Gegenüber. Auch bei ihr wird der  Gesamteindruck erst bei näherem Besehen durch das Zusammenspiel feinster  einzelner Details erzielt. Damit diese Kunstfertigkeit in all ihrem  Raffinement voll zur Geltung kommen kann, hielten die Kuratoren die  Figurinen schlicht. Die gesamte Aufmerksamkeit richtet sich auf die  Kleider. Nicht hinter Glas, sondern im Raum auf leicht erhöhten Stufen  dürfen die textilen Kostbarkeiten sich in ihrer Stofflichkeit entfalten.  So wird beispielsweise der hauchzarte Seidenchiffon sanft in Bewegung  versetzt, sobald ein Besucher in seine Nähe kommt. Von der dynamischen  Eleganz, die diese Mode erzeugte, wenn sie erst getragen wurde, bekommt  man einen sinnlichen Eindruck.

Revolutionär war jene Form der modischen Zurückhaltung zu einer Zeit,  als Frauen ihre Kleider nicht trugen, sondern von diesen getragen  wurden. Chanels Kleiderkunst war eine aus schwarzer Seide geschneiderte  Radikalität. Sie reagierte damit auf die fest im Korsett geschnürten  Damen, die die großen Federhüte auf den hochfrisierten Haaren trugen und  dadurch lediglich ein Mindestmaß an physischer und geistiger  Beweglichkeit für sich in Anspruch nehmen durften. Den kleinen  Wermutstropfen die weibliche Figur im neuen Kleid nun selbst formen und  gestalten zu müssen, da dies nicht mehr dem Fischbein überlassen werden  konnte, kommentierte Chanel auf die ihr eigene Art. Auf die Frage einer  Journalistin, was sie denn zum Frühstück esse, antwortete die  Modedesignerin charmant: „Madame, ich esse morgens eine Kamelie und  abends eine Orchidee.“

Mit feinem Gespür wurde in dieser Ausstellung die Aufmerksamkeit auf  subtile Details gelenkt. Sind es zu Beginn vornehmlich Linien und  Schnittkunst, die modisch und künstlerisch miteinander korrespondieren,  wird der Reigen an Dialogen im Verlauf der Ausstellung immer  weitergesponnen. Picassos bisweilen erdig grobe Farboberflächen finden  ihr Gegenüber in einem wild gelockten Persianermantel. Der strenge  Flakon des weltberühmten Parfums Chanel Nr. 5 scheint direkt einer der  Collagen des spanischen Künstlers entsprungen zu sein. Der flaumige  Pelzkragen des melancholischen Harlekins wurde augenscheinlich von  Chanel kurzerhand an einen ihrer eleganten Tagesmäntel geheftet.

Durch  Misia Sert und Cocteau waren die beiden hochkomplizierten und ebenso  talentierten Persönlichkeiten um 1917 miteinander bekannt gemacht  worden. Später sollte Chanel über diese Zeit sagen, dass es die Künstler  gewesen seien, die sie gelehrt hätten, wie man anspruchsvoll ist. Mit  Vorliebe kleidete sich Picassos damalige Frau Olga, eine russische  Ballerina, in Chanel, nicht nur, wenn sie porträtiert wurde. In den  darauffolgenden Jahren kam es zwischen Chanel und Picasso zweimal zu  einer Zusammenarbeit. Für Cocteaus Antigone Adaption schuf sie die  Kostüme, er die Masken und Bühnenbilder. Das antike Griechenland war für  beide die Inspiration.


Ganz  anders gestaltete sich die Ästhetik in den Entwürfen zu Diaghilevs  Ballett Le Train bleu, das sich an der Gegenwart orientierte und von den  Freizeitaktivitäten jener Jahre beeinflusst war. Sportlich legere  Ensembles finden sich sowohl bei Chanels Kostümen als auch in Picassos  Programmillustration. Motivgeber für das ebenfalls von Cocteau  geschaffene Szenario war eine kleine Gouache Picassos. Sie zeigt Frauen  in Badebekleidung, die dem Strandleben frönen. Dieses Bild diente später  auch als Titelblatt für die Aufführung und durfte nun hundert Jahre  später als Museumsplakat für diese umwerfend schöne Ausstellung werben.


Leise  und eindrücklich endet die Schau mit zwei Fotografien: die eine zeigt  die schönen Hände der Modeschöpferin, die andere die des spanischen  Großkünstlers. Beide auf höchstem Niveau ihres Schaffens  zusammenzubringen, jedem dabei den eigenen Raum zu lassen,  unaufdringlich die innovativen Gedanken, Ideen und Formen dieser zwei  Genies mit großer respektvoller Klarheit aufzuzeigen, indem man sie  zueinander in Bezug setzt, um auf jedem Quadratmeter der Ausstellung dem  Auge ein ästhetisches Fest zu bereiten: Das ist das große Verdienst  dieser Schau.


Nur  eine kleine Pause gestatten wir uns, bevor wir das Obergeschoss des  Museums besichtigen. Hier kann man erleben, was ein einzelner Mensch  imstande ist zu sammeln, wenn er denn genügend Geld und Kunstverstand  hat. Nahezu ausschließlich auf Hans Heinrich Thyssen Bornemisza geht der  Bestand zurück. (Die Sammlung seiner 5. Ehefrau Carmen wurde erst  kürzlich ins Erdgeschoss ausgegliedert.) Als Spross einer  Großindustriellenfamilie scheinen seine finanziellen Mittel keine  Grenzen gekannt zu haben. Der Reigen beginnt, wie könnte es anders sein,  mit den frühen Italienern, denen sich Niederländer und Deutsche  anschließen. Als nicht unbedingt glücklich muss die Wahl der Wandfarbe  bezeichnet werden. Nur mit Mühe blende ich bis zum Schluss den bisweilen  aufdringlichen pastellenen Orangeton aus. Dem Geschmack früherer  Jahrzehnte entsprechend, wurde dieser zu allem Überfluss an manchen  Stellen auch noch in Wischtechnik aufgetragen. Mit großer Anstrengung  schaffen es die mittelalterlichen Goldgründe dagegen ästhetisch  anzukämpfen.

Ob der schieren Menge an Werken fokussiere ich mich auf die  Porträtkunst. Memling erscheint mir wie ein malerischer Psychologe.  Innerlich beginne ich ein Zwiegespräch mit seinem so undurchdringlich  klug dreinschauenden Mann. Zart und ernst beobachten die jungen Frauen  in den Goldrahmen das Geschehen, das tagtäglich an ihnen vorüberzieht.  Selbstbewusst und prächtig benehmen sich dagegen ihre nur um wenige  Jahre jüngeren italienischen Schwestern. Mit blondiertem Haar,  aufwändiger kostbarer blauer Robe und modischem Hündchen zieht die  unbekannte Venezianerin von Veroneses Hand alle Blicke auf sich und  scheint das Aufsehen sehr zu genießen.

Von ähnlich unverhohlener Keckheit präsentiert sich der nahezu  unversehrte Hl. Sebastian Bronzinos. Temperamentvoll hat er seinen roten  Umhang zurück geworfen, sodass die makellose Brust sichtbar wird. Blond  gelockt liegt das Haupthaar um den schönen Jünglingskopf. Hier zeigt  einer das Idealbild männlicher Adoleszenz und nicht den erbarmungswürdig  zu Tode gefolterten Märtyrer. Die Kunst hat den Sieg über die Religion  davongetragen.

Eine Epoche legt davon besonders beredt Zeugnis ab. Leichtigkeit,  Heiterkeit und Unbeschwertheit schrieb sich das Rokoko auf die  pastellenen Fähnchen. Mit zauberhafter Zartheit zeigt Watteau  diejenigen, die für dieses Lebensgefühl der Oberschicht zu sorgen  hatten. Nur bei äußerst behutsamer Betrachtung sehen wir die Müdigkeit  und Erschöpfung des Pierrots hinter seinem weißglänzenden Kostüm.

Einen gewissen Grad an Kunstüberforderung kann selbst ich nach einem  solchen Tag nicht ganz verhehlen. 19. Jahrhundert und Moderne lasse ich  eindrucksvoll an mir vorüberziehen. Am Ende unseres Besuches kehre ich  jedoch zurück zu einem Bild, das ich von unzähligen Abbildungen her  kenne. Ich habe darüber referiert und gesprochen und nun stehe ich vor  einem der schönsten Liebespaare der Kunstgeschichte. Hans Baldung Grien  hatte im 16. Jahrhundert als erster Maler gewagt, Adam und Eva nicht als  ungehorsame Menschen zu zeigen, sondern als sich liebendes Paar. Welch  wunderbarer Gedanke nicht dem Sündenfall, der Schuld, der Vertreibung  aus dem Paradies ein die Jahrhunderte überdauerndes Bild zu geben,  sondern der Liebe.

Am  5. Januar steht der Besuch des Prado an. Vielleicht ist der Vortag  eines der wichtigsten spanischen Feiertage dazu nicht unbedingt die  beste Wahl. Das jedoch haben wir erst am Eingang festgestellt. Trotz  Zeitticket zieht sich die Schlange um das Gebäude. Der Einlass ist  anstrengend. Die Massen schieben sich durch Treppen und Gänge. Ich  sammle und konzentriere mich. Denn welch ein Wunder – der gestrige Tag  wird gleich zu Beginn nahtlos weitererzählt. Fulminant eröffnen Tizians  und Rubens‘ Version des ersten Menschenpaars die Bildergalerie. Wie sehr  der venezianische Farbenzauber den Flamen inspiriert und beeindruckt  hat, lässt sich an diesem Nebeneinander grandios studieren. Nahezu  identisch übernimmt Rubens die Komposition und Figurenanordnung. In  beiden Bildern greift Eva nach der verbotenen Frucht, während Adam auf  einem Felsblock sitzt. Die Frau übernimmt den aktiven, der Mann den  passiven Part. Die Umkehr der Geschlechterrollen und deren damit  verbundene verderbliche Konsequenzen werden dem Publikum so eindrücklich  vor Augen geführt.


Bei  einem derartigen Gipfeltreffen zweier Malerstars sind die Unterschiede  aber natürlich weitaus interessanter und aufschlussreicher als die  Übereinstimmungen. Selbst kleinste Nuancen können auf essentielle  verschiedene Blickwinkel verweisen. Während Rubens Tizians Eva nahezu  vollständig kopiert, zeigen sich die offensichtlichsten Abweichungen in  der Positionierung des Adam. Das spannungsreiche engere Zusammenführen  der Beine ist nur die äußere Geste für eine inhaltliche Verdichtung.   Adam zeigt seine Bereitschaft zur Verführbarkeit. Der Sündenfall dräut,  die Katastrophe der Vertreibung aus dem Paradies und der damit  verbundenen Erkenntnis der Nacktheit sind in sehr viel greifbarere Nähe  gerückt. Dies vermittelt auch der Verzicht auf das bis dato  obligatorische Feigenblatt.


In  echter Barockmanier formt Rubens das Paar mit einer physisch weitaus  dringlicheren Präsenz als der der idealen Schönheitlichkeit  verpflichtete Tizian. Auch wenn Rubens‘ Adam einen leuchtend roten  Papagei zur Seite gestellt bekommt – ein Tier, das zur Mariensymbolik  gehört und auf die spätere Erlösung der Menschheit hinweisen soll –  entwickelt sich hier kein entrücktes biblisches Geschehen, sondern ein  durch eigenständig getroffene Entscheidungen verantwortetes menschliches  Drama. Adams Gestik und Blickführung sind die aufmerksame Reaktion auf  Evas Tun. Seine rechte Hand liegt nicht mehr unbeteiligt auf dem Stein.  Kraftvoll stützt er sich ab, als wolle er Halt gewinnen für ein baldiges  Aufstehen. Die sanfte linke Hand an Evas Brust zeugt weniger von  abwehrendem Widerstand als von einer, durch die sinnliche Berührung  ihrer Haut verstärkte, zunehmend neugierige Empfänglichkeit. Anders als  Tizians Adam, beugt sich Rubens‘ biblischer Urvater nicht mehr zurück,  um sich Distanz zu verschaffen zur verführenden Eva, sondern gefährlich  nah an sie heran, und so auch dem weiteren biblischen Geschichtsverlauf  entgegen.


Großartig  gestaltet sich dieser Beginn, überwältigend zeigt sich der weitere  Verlauf. Meisterwerk folgt auf Meisterwerk. Kunsthistorische  Superlativen feiern sich auf höchstem Niveau. Wie eng verbunden Macht  und Kunst durch alle Epochen hindurch gewesen sind, lässt sich an diesem  Ort auf atemberaubende Weise erkunden. Es waren die Fürsten, die  Herrschenden, die Einflussreichen vergangener Jahrhunderte, die diese  Schätze zusammengetragen haben. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert  gehörte es zum guten Ton in jenen oberen Kreisen sich mit Kunst und  Künstlern zu umgeben, diese zu fördern und auch für eigene Zwecke  einzusetzen. So blicken nahezu von jeder Wand des Prado die ernsten  Gesichter all jener, die zwar vom Schicksal nicht mit Armut oder  Unbedeutendheit geschlagen waren, dafür jedoch neben all der schweren  Kleidertracht auch noch die Bürde der hohen Geburt zu tragen hatten.


Der  Großkünstler Velázquez wurde nicht müde gerade jene Extreme in Bilder  zu fassen. Er malte die spanischen Könige und Infanten hoch zu Ross.  Genauso sorgsam ging er aber auch zu Werke, wenn es darum ging, den  Ausgestoßenen, Hässlichen und Kranken Gesicht und Gestalt zu verleihen.  Ohne ihn hätte wir keinerlei Vorstellung davon. Seiner Stellung war sich  der spanische Hofkünstler sehr bewusst. In seinen weltberühmten Las  Meninas legte er nicht nur Zeugnis vom strengen Leben und Protokoll bei  Hofe ab, sondern setzte mit seinem Selbstporträt auch sich selbst und  seinem Kunstschaffen ein würdiges Denkmal.


Raum  für Raum durchstreifen wir. Es gibt so gut wie keine Ecken an denen  eine kurze Erholung von all dem Bedeutungsüberfluss möglich wäre. Dürer,  Raffael, Bosch, Goya drängen sich genauso dicht an dicht an den Wänden  wie die Besucher in den Gängen davor. So störend dies vielleicht  bisweilen für den Einzelnen sein mag, so tröstlich empfinde ich es auch.  Wahrhaft große Kunst wie sie hier im Prado im Übermaß zu sehen ist,  vermag selbst den digital reizüberfluteten Menschen des 21. Jahrhunderts  in ihren Bann zu ziehen, weil sie – in die jeweilige Form einer  Kunstepoche gekleidet – von den zeitlos gültigen Aspekten des  Menschseins erzählt.


Auch  auf weit profanerer Ebene ändern sich manche Dinge augenscheinlich  nicht. Erheitert stelle ich im Museumsshop am Postkartenregal fest, dass  von Goyas berühmten beiden Majas, die nackte Version wesentlich mehr  Anhänger findet. Sie ist nur mehr in zwei Exemplaren vorhanden, während  von der Bekleideten noch mindestens 50 Stück zu haben sind.


www.museothyssen.org

www.museodelprado.es

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