Gedanken zur Ausstellung „Matisse. Einladung zur Reise“
In der Fondation Beyeler
Eine Einladung zum Tanz hat Matisse mit seinem ikonischen, weltberühmten Gemälde von 1909 ausgesprochen. Kann das Einreihen in die Gruppe der fünf anmutigen Frauen, die schwerelos über den Hügel schweben jedoch stets nur imaginär stattfinden, gestaltet sich die Einladung zur Reise, die die Fondation Beyeler diesen Winter ausspricht, weitaus realer. Gerne nimmt man also einige hundert Kilometer in Kauf, um im Schweizer Grenzort Riehen an der Seite des großen französischen Künstlers durch Länder, Zeiten und Kunststile wandeln zu dürfen. Gleich zu Beginn begrüßt kein geringerer als Charles Baudelaire die Besucher. Hier ist am Eingang sein Gedicht „Einladung zur Reise“ zu lesen, dessen Refrain „Da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“ uns wie eine leise Melodie durch die Ausstellungssäle begleiten wird. Matisse hat den Klang und die Bedeutung dieser Zeilen sogar in einem Gemälde eingefangen, das er mit „luxe, calme et volupté“ betitelt hat. 1904 verbrachte der Künstler zusammen mit seiner Familie den Sommer auf Einladung Paul Signacs in Südfrankreich. Unter dem Eindruck des flirrend gleißenden Sonnenlichts ließ Matisse sich von der Malweise des Freundes inspirieren ohne vom Ergebnis jedoch wirklich überzeugt zu sein. Schon bald zieht er suchend weiter. Seine mediterrane Idylle in getupften Pastelltönen wird das einzige pointillistische Bild seiner Hand bleiben.
Auch die nächsten Etappen seiner lebenslangen künstlerischen Reise können in der Fondation bestaunt werden. Ein Aufenthalt in Norditalien hinterlässt dergestalt Spuren, dass Matisse das wahrhafte Kunststück vollbringt, seine Begeisterung für die auch nach 600 Jahren noch so ungemein präsenten Körpervolumina eines Giotto ins 20. Jahrhundert zu transferieren. Aber nicht nur bei seinem mittelalterlichen Kollegen holte er sich Inspirationen. Sein interessierter Blick setzte sich auch mit der eigenen künstlerischen Gegenwart auseinander. So nahm er inhaltlich Anleihen an den Badeszenen Cézannes, mit denen dieser sich zu jener Zeit intensiv beschäftigte. Wie ein rätselhaftes Amalgam jener Einflüsse mutet nun die Szenerie der in unterschiedlichen Posen agierenden nackten Frauen an, die sich mit großer Aufmerksamkeit einer Schildkröte widmen. Trotz aller Vorbilder bleibt dieses Werk jedoch eine durch und durch originäre Erscheinung von größter Individualität. Die wilde Fremdartigkeit solcher Werke ließ Matisse zu einem Hauptvertreter des Fauvismus werden, jener Kunstrichtung, die eine der einflussreichsten und meistdiskutierten des jungen 20. Jahrhunderts war.
Auch wenn Matisse von sich behauptet, kein Reisender zu sein, sondern lediglich die Orte gewechselt zu haben, wäre sein Werkschaffen ohne diese Dynamik undenkbar. Er sei stets nur auf der Suche nach dem Licht gewesen, vermerkte er einmal im hohen Alter. Eines von schmelzender Intensität fand er in Marokko, das er kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges innerhalb weniger Monate gleich zweimal bereiste. Ungeheuer produktiv war er vor Ort mit über 20 Gemälden, die sich vornehmlich mit der dortigen Landschaft auseinandersetzten. Eine aus violettblaugrünen Farbflächen zusammengesetzte Komposition, die mehr zu klingen scheint als etwas darstellen zu wollen, ist in der Fondation zu sehen. „Deshalb allein zum Beispiel ist Matisse Matisse: weil er die Sonne im Leib hat“, sagte Picasso, der den Künstlerfreund als einzig ebenbürtigen Kollegen neben sich duldete.
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich pendelte Matisse lediglich zwischen Paris und Nizza; machten die gewaltvollen Zeiten des Krieges doch längere Aufenthalte im Ausland unmöglich. Das Reisen konnte lediglich in der Imagination stattfinden, das Erleben der Ferne war nur mittels eines Fensterblicks aus dem Innenraum heraus möglich. Die nordafrikanische Reise hat jedoch mannigfach Spuren hinterlassen, die sich in diesen stillen Jahren besonders deutlich zeigen. Zwar geben die Gemälde jener Zeit vornehmlich Einblicke in das Atelier des Malers, in diesem finden sich jedoch vielerlei Zeugnisse des vergangenen Aufenthaltes: Teppiche, Spiegel, Paravents oder Tische werden in orientalischer Manier drapiert und verleihen dem Arbeitsraum ein exotisches Gepräge. So wie Matisse jene Objekte aus der Fremde in seine Heimat verbrachte, so inszeniert er sie dementsprechend ungekannt und formal neuartig in seinen Bildern. Immer weniger folgt er einer realistisch anmutenden malerischen Sichtweise. Immer mehr sperren sich die Räume gegen die Perspektive. Immer häufiger dehnen sich die Gegenstände in die Fläche und wehren sich gegen die vorgebebenen Größenverhältnisse, indem sie sich verstärkt dem Ornamenthaften hingeben.
So experimentell eigenständig der Künstler mit Dingen und Räumen verfährt, so sehr verändert sich auch stetig sein Blick auf die weibliche Gestalt. Er ergründet sie mit zarter, nahezu tastender, jedoch stets respektvoller Distanz. Prototypisch kann an diesem Bildmotiv seine künstlerische Vorgehensweise beobachtet werden. Niemals scheint er sich sicher zu sein, stets fragt er nach Alternativen, sucht nach anderen, weiteren, noch nicht da gewesenen Möglichkeiten, ändert unvermittelt die Richtung. Hinge man alle Frauenbildnisse der Ausstellung in einen Raum, man würde nur schwerlich glauben können, dass sie alle von derselben Malerhand stammen. Da zeigt sich vertraut, jedoch im viel zu kleinen Maßstab entspannt auf dem Balkon sitzend die Ehefrau. Sein italienisches Modell Laurette mutet in der Zurücknahme und Reduziertheit ihrer Darstellung hingegen fast altniederländisch streng an. Aber auch sinnenfroh und von luxuriöser Aufmachung dürfen sich seine Modelle in fantastischer Kostümierung präsentieren, während nur wenige Zentimeter weiter sich die große nackte Liegende so weit wie nur irgend möglich von jeder tradierten Form der Aktdarstellung entfernt. Immer weiter hatte Matisse die Gestalt abstrahiert. „Ich verdichte also die Bedeutung dieses Körpers indem ich seine wesentlichen Linien herausarbeite.“ 26 Motivveränderungen sind bezeugt innerhalb eines Malprozesses, dessen Ergebnis nun eine Figur von formatfüllender rosa-orangener Überwältigung zeigt. Seine langjährige Mitarbeiterin Lydia Delecorskaya verwandelte der Künstler mühevoll von einem naturalistischen Akt in eine monumentale Ikone der Moderne. Wie physisch präsent sie nicht nur im Bild war, bezeugen Fotografien aus der Entstehungszeit des Gemäldes. Tatkräftig nahm die Russin Anteil an der Veränderung ihrer Darstellung, indem sie nach dem passiven Modellsitzen die vom Meister für unnötig empfundenen Farbflächen vom Malgrund wieder abkratzte. Im letzten Stadium des schöpferischen Prozesses kamen zudem Schablonen zum Einsatz.
Nur stringent war es deshalb, dass Scherenschnitte die letzte Schaffensperiode des Künstlers dominierten. Nach einer aufwändigen Reise nach Tahiti über New York in den frühen 30er Jahren, die erst mit großer Zeitverzögerung Spuren in seinem Oeuvre hinterlassen sollte, zog Matisse in seinem weiteren Lebensverlauf die Kreise kleiner. Zunehmend radikaler wurde seine Arbeitsweise, indem er sich mehr und mehr seinen bis heute berühmten Scherenschnitten widmete. Er zeichne mit der Schere, er schneide direkt in die Farbe; so nannte der Künstler diese Vorgehensweise, die er mit dem Meißelschlag eines Bildhauers verglich. Der blaue Akt mit grünen Strümpfen kann schließlich als Synthese seines Werkschaffens gesehen werden. Von berückend strahlender Intensität zeigt sich das Kolorit. Radikal vereinfachte Matisse die Formen soweit bis der Frauenkörper sich in der Flächigkeit des selbst geschaffenen Raumes fließend zur ornamentalen Pflanzenform verwandelte. Erst in dieser Arbeitsphase scheint es, als hätte der ewig fragende, der ewig suchende, der ewig reisende Matisse sich selbst eine Antwort gegeben.
„Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände (…) eine Erholung für das Gehirn.“