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Gedanken zu einer Neujahrsreise nach Paris

Centre Pompidou, Louvre, Musée Jacquemart André
Renée Magritte, Antoine Watteau, Caravaggio

„Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: SURREALITÄT.“ Vor exakt 100 Jahren schrieb André Breton sein „erstes Manifest des Surrealismus“ und bereitete damit einer Kunstströmung den weiteren Weg, die vom Dichter Guillaume Apollinaire bereits einige Jahre zuvor ihren Namen erhalten hatte.


Allerorten, so auch im Centre Pompidou, feiert man nun jedoch jubiläumspünktlich zu Bretons Manifest die Überwindung der Kunstvernunft mit großem Aufwand. Im eisigen Wind des ersten Tages des Jahres stellen wir uns gehorsam in eine der nicht enden wollenden Schlangen vor diesem postmodernen Koloss aus den 70er Jahren. Unseren Gedanken, einem Jahresanfang in Paris müsse, frei nach Hesse, doch ein besonderer Zauber innewohnen, hatten leider noch unzählige andere Menschen. Paris quoll schier über vor einheimischen und ausländischen Touristen, von denen wir aber eben auch zwei waren, die in den langen Schlangen zu warten hatten.


„Was ist der Surrealismus? Das ist ein Kuckucksei, das unter Mitwissen von René Magritte ins Nest gelegt wird.“ – André Breton

Bizarr mutet der Gedanke an, dass eine Ausstellung von Künstlern, die die logisch-rationale „bürgerliche“ Kunstauffassung als radikal und provokativ ablehnten, die alle geltenden Werte umstürzen wollten und sich vor 100 Jahren gegen Norm und Konformität richteten, nun zum Massengeschmack geworden sind. Um zu den Ausstellungsräumlichkeiten zu gelangen, die in den oberen Stockwerken liegen, nimmt man trotz Kälte immer wieder gerne die spektakuläre Rolltreppenfahrt am Äußeren des Gebäudes auf sich. Einer der schönsten Blicke über Paris bietet sich von hier aus. Monsieur le Président Georges Pompidou weiß bis heute mit seinem ehrgeizigen Prestigeprojekt zu beeindrucken.


Die Schau ist völlig überfüllt. Da es zunehmend schwierig wird, sich ob der Besuchermenge einen Überblick zu verschaffen, fokussieren wir uns auf einzelne Werke. Die großen Namen des Surrealismus sind allesamt vertreten: Mereth Oppenheim, Max Ernst, Miró, Salvador Dali – und immer wieder Magritte. Leise, rätselhaft und hintergründig hängen seine Werke so elegant wie bescheiden zwischen den vielen Skurrilitäten. Seine Form des Surrealismus basiert nicht auf Absurdität. Nüchtern geht er malerisch zu Werke, indem er den Objekten des Alltags ihre kontextuelle Zugehörigkeit raubt und Zusammenhänge erschafft, die in einer auf Naturgesetzen beruhenden Welt so nicht vorgesehen sind. „L'Empire des lumières“ ist eines jener Bilder, dessen feine Ironie sich erst auf den zweiten Blick entdeckt. Ein weiß gestrichenes, von einer davorstehenden Laterne beleuchtetes Haus spiegelt seine nächtliche Silhouette in den See. Von idyllischer Vertrautheit erscheint jene Szenerie, die jedoch die Erwartung, von einem samtenen Nachthimmel überwölbt zu werden, enttäuscht. Hell strahlt hier stattdessen ein von flockigen Wölkchen gepunktetes Sommerblau.


Auch in „La durée poignardé“ kommt es zur Kollision scheinbar inkompatibler Objekte. Eine Lokomotive fährt aus einem Wohnzimmerkamin direkt auf den Betrachter zu. Die mit leichter Hand vorgenommene Veränderung von Größenproportionen ist ein beliebter Schachzug des Belgiers, derer er sich auch im Gemälde „Les valeurs personelles“ bedient. Im gediegenen Interieur, das mit dem bereits bekannten wolkenreichen Himmel als Tapete ausgestattet ist, teilen sich Bett und Schrank das Zimmer mit Kamm, Glas, Streichholz und Rasierpinsel; letztere sind grandios überdimensioniert dargestellt. Verstärkt wird diese sonderbare Vergrößerung noch durch die Spiegelung der Gegenstände in den Schranktüren. Die Ästhetik des Rätselhaften im bisweilen doch oft matten Alltag nicht zu übersehen, scheint mir eine schöne Botschaft dieser Bilder zu sein. Sorgsam tragen wir sie durch die Besuchermengen hinaus in unseren Abend.

Ein Komödiant ohne Text

Am nächsten Tag heißt ein besonderer Gastgeber im Louvre sein Publikum willkommen. Nach aufwändiger Restaurierungsarbeit steht Watteaus berühmter, trauriger Spaßmacher wieder in strahlendes Weiß gekleidet im Mittelpunkt der kleinen eleganten Ausstellung „Pierrot, dit le Gilles. Un comédien sans éplique.“ Es ist eines der rätselhaftesten Gemälde der Kunstgeschichte und bis heute bleibt der Kenntnisstand lückenhaft. Jedoch zeugen mehr oder minder schlüssige Vermutungen vom ungebrochenen wissenschaftlichen Ehrgeiz, diesem so berühmten wie melancholischen Meisterwerk von Antoine Watteaus Hand doch endlich sein Geheimnis zu entlocken. Einige Kunsthistoriker schießen dabei in ihrem Erkenntnisdrang weit über das Ziel hinaus, indem sie in der Figur des Pierrot eine Abwandlung des Ecce Homo sehen wollen.


1826 wird das Bild zum ersten Mal erwähnt. Dominique Vivant Denon, der schillernde erste Direktor des Louvre und räuberischer Kunstagent Napoleons hatte das Gemälde in seine Privatsammlung aufgenommen. Woher es stammte, wer Auftraggeber oder früherer Besitzer war, ist unbekannt. Vermutet wird ein naheliegender Zusammenhang mit der Theaterwelt, in der das Werk vielleicht als Werbetafel diente. Ungewöhnlich sind Format und Größe. Watteau ist bekannt für seine filigranen von einzigartig koloristischem Liebreiz funkelnden kleinen Querformate, von denen in der Ausstellung auch einige zu sehen sind. Das schönste ist das Bildchen aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza. Hier sitzt ein ebenfalls weiß gekleideter Pierrot umgeben von einer kleinen Gruppe Männer und Frauen auf einem Bänkchen. Als würde er gerade eine Pause machen, um sich von seinen Späßen auszuruhen, scheint er in der friedlichen Parklandschaft wie der zufriedene Bruder des Pariser Gilles, dessen verloren wirkende Pose im schlecht sitzenden Gewand von rührender Unbedarftheit zeugt. Diese Einfachheit der Kleidung erlaubt Watteau eine beispiellose Präsentation seiner koloristischen Virtuosität. Dem klaren Weiß, jener Nichtfarbe, entlockt er all ihre schimmernden Facetten und Nuancen, was dazu führt, dass dieser lichthell strahlende Pierrot, in besonders auffälliger Weise den Blicken seines Publikums ausgeliefert ist. Traurig steht der Kontrast zwischen Kostüm und individueller Wesenheit frontal vor uns. Mit berückender Aufrichtigkeit, die jedoch nicht auf Kosten der ästhetischen Anziehungskraft geht, weist der sonst so leichthändige Künstler Watteau auf die spannungsreiche Diskrepanz von Sein und Schein hin.

Das ist kein Früchtekorb!

Auch im Musée Jacquemart André lässt sich ein junger Mann bewundern. Für gewöhnlich in der Villa Borghese zu Hause, ist er dort eine der Hauptattraktionen nicht nur dieses Museum, sondern ganz Roms. Zusammen mit anderen Meisterwerken der Sammlung, wie z.B. der so zärtlich ihr kleines Einhorn an sich herandrückenden blonden Schönheit von Raffaels Hand, wurde er für die Ausstellung nach Paris geschickt, wo sich nun Scharen von Verehrern um ihn drängen. Lassen wir die Besuchermassen aber hinter uns, konzentrieren wir uns auf die Begegnung mit dem vermutlich berühmtesten der vielen verführerischen Jungs, die Caravaggio gerade zu Beginn seiner Karriere nicht müde wurde zu malen. Als unbekannter Maler war Michelangelo Merisi aus Caravaggio zu Beginn der 1590er Jahre nach Rom übergesiedelt. Nach unterschiedlichen Stationen kam er bei Giuseppe Cesari, bekannter als Cavaliere d’Arpino, in die Lehre, der seinen jungen Kollegen auch hinsichtlich der Vermarktung seiner Werke unterstützte. Brillant gemalte, mittelgroße Halbfigurenbilder mit ambivalentem Inhalt wurden in dieser Zeit Caravaggios Spezialität, die er zum freien Verkauf und nicht dezidiert für einen Auftraggeber anfertigte. So war auch der erste Besitzer des „Fruttaiolo“ Giuseppe Cesari, bevor dessen Kunstsammlung, durch eine Intrige ermöglicht, von Scipione Borghese übernommen wurde.


Viel, vielleicht zuviel, ist bereits über dieses Bild geschrieben worden. Die verschiedensten Interpretationen und Deutungen, Aufsätze und Abhandlungen füllen mittlerweile Regalmeter in den kunsthistorischen Bibliotheken, verstellen bisweilen aber den Blick auf das Offensichtliche und Wesentliche. Man sah das Bild als Allegorie des Geschmacks, als Verweis auf die zahlreichen antiken Legenden, gemäß derer die Qualität der Malerei sich in ihrer Naturnähe zeige, als homoerotische Anspielung oder schlichtweg als Genreszene zur Fingerübung, die sich gut verkaufte. Schiebt man all diese Deutungen einmal zur Seite, stehen wir einem durchaus schlichten Motiv gegenüber. Ein Junge mit halbentblößter Schulter, der viel mehr in die Gassen Roms als auf die vornehmen Boulevards der französischen Hauptstadt zu gehören scheint, präsentiert in einem nicht näher definierten, von weichem Licht durchflossenen Innenraum einen üppigen Früchtekorb. Von samtener Weichheit runden sich Pfirsiche. Verführerisch glänzen die prallen Trauben. Elegant und filigran bewegt sich das Weinlaub als koloristische Beruhigung zwischen all der Farbenpracht. Und zu welchen Worten setzt der Junge selbst wohl gerade an? Den Kopf leicht in den Nacken gelegt, die Augen von den schweren Lidern halb geschlossen, den Mund bereits geöffnet wird er uns fragen, was wir selbst über ihn und seine Darstellung denken.


Caravaggio scheint mir der erste Künstler zu sein, der unverhohlen ein entwaffnendes Spiel der Offenheit mit dem Betrachter treibt. Der Modell- und Ateliercharakter seiner Bilder wurde immer wieder betont. Die Situation des „Gemaltwerdens“ hat Caravaggio nie vollends verschleiert, vielmehr versteckt er sie subtil in seinen Bildern. Auch im „Fruttaiolo“ ist dieser Aspekt präsent und wahrnehmbar. Lange bevor ein anderer, ein Belgier namens Magritte ein für alle Mal mit dem Täuschungsmanöver der Malerei kurzen Prozess macht, indem er unter sein berühmtestes Bild, das eine Pfeife darstellt, schreibt: „Das ist keine Pfeife!“ hat dieser ungestüme Künstler aus dem Norden Italiens mit seinem Bild des kleinen Obstverkäufers den Illusionscharakter der Malerei entlarvt.


https://www.centrepompidou.fr

https://www.louvre.fr/expositions-et-evenements/expositions/revoir-watteau

https://www.musee-jacquemart-andre.com/en/masterpieces-borghese-gallery

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