Gedanken zu einer Reise an die Côte d’Azur
Turners sublimes Vermächtnis, Grimaldi Forum, Villa Éphrussi de Rothschild, Monte Carlo, Grasse, Vence, Gourdon, Hotel du Cap-Eden-Roc, Villa Musée Jean-Honoré Fragonard
„Die schönsten Dinge im Leben sind kostenlos, die zweitschönsten sehr teuer.“ Coco Chanel
„Gesegnetes Frankreich, mit Paris als Hauptstadt und dieser Mittelmeerküste als Badestrand.“ Mit dieser Wahrheit, die natürlich nicht erst während der opulenten olympischen Sommerspiele im Jahr 2024 zutrifft, beginnen die vielreisenden Geschwister Klaus und Erika Mann 1931 „Das Buch von der Riviera“. Sie sind nur zwei von vielen, die dieses besondere Stück Europa beschrieben und, wie könnte es anders sein, bewundert haben. Als „eleganteste Küste der Welt“ bezeichneten sie diese Region, wobei die beiden Schriftsteller hier weniger die Menschen als die Landschaft meinten. Nichtsdestoweniger hat allein der Name Côte d‘Azur auch in Zeiten des Overtourism noch immer einen unwiderstehlichen Klang, verspricht er noch immer die Erfüllung einer Sehnsucht von „Sonne, Sonne, Sonne – plus Golfstrom. Ganz blaues Meer, Palmenalleen, Kasinos, Luxushotels.“
Nach Klaus und Erika Manns hinreißender Liebeserklärung und vielerlei anderer literarischer Zuwendungen von Größen wie F. Scott Fitzgerald, Jean Cocteau oder Guy de Maupassant bräuchte es natürlich keiner weiteren Worte über die Côte d‘Azur. Fasste man die Küste jedoch als Kunstwerk auf (was sie zweifellos ist!) dann gestattet dieser Status vielleicht doch den individuellen erneuten Blickwinkel. Gerade vor dem Hintergrund der Mannschen Beschreibungen kann er einen besonderen Charme entfalten. Denn vieles von dem was vor nahezu hundert Jahren galt, stimmt noch immer. „Alte Damen mit fantastischen Bankguthaben“ wandeln zwar nicht mehr wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Promenaden. Hier tummeln sich stattdessen Airbnb-Touristinnen mit zweifelhaften Tattoos auf den Beinen. Einen besonderen Ort gibt es aber immer noch, an dem jene sehr wohlhabenden, heute jedoch äußerlich sichtlich aufwendig verjüngten älteren Damen anzutreffen sind und der vornehme Luxus sein Zuhause hat. Für Klaus und Erika ist das Hotel du Cap-Eden-Roc der schönste Ort der gesamten Riviera. Ich stimme ihnen vollkommen zu. Denn noch heute „liegt das Hotel so prachtvoll und es hat einen solchen Blick und zum Meer hinunter führt ein so sehr herrschaftlicher Park.“ Sogar die Bar, „von der aus man nichts als Meer sieht, so daß man sich wie auf einem Schiffe fühlt“ entzückt genauso, wie die Preispolitik dieser Luxusherberge Staunen macht. „Die Preise sind während des Sommers noch ärger, als während des Winters; und während des Winters sind sie arg genug.“ Wer sich zumindest für einige distinguierte Stunden wie eine Millionenerbin aus Übersee fühlen möchte, ohne jedoch das gesamte Sparbuch dafür zu plündern, dem sei ein Lunch im Grillrestaurant des Hotels empfohlen. Vornehme Menschen essen zu Mittag, wussten schon die Mann-Geschwister. Zudem ist zu dieser Tageszeit die Aussicht von der Terrasse aufs Meer besonders bezaubernd.
So wäre zu diesem Ort eigentlich alles gesagt, wenn das Cap-Eden-Roc eben nicht weit mehr als nur ein Hotel wäre. Hier an dieser vom Meer umtosten Küste nahm eigentlich alles seinen Anfang. Von der russischen Aristokratie war das luxuriöse Anwesen einst zur Winterresidenz erkoren worden. Die Oberschicht entfloh den klirrend kalten Temperaturen ins auch im November angenehm mediterrane Klima und blieb dann bis zum Frühling. Nicht die gleißend flirrenden Sommer verbrachte man in opulenter Garderobe und mit Dienstpersonal aufwendigst ausgestattet im Süden, sondern die milden Winter. Natürlich kam niemand auf die Idee, sowohl der Schicklichkeit als auch der Temperaturen wegen, nur einen Fuß ins Wasser zu setzen. Das Meer war lediglich Kulisse für einen ungemein luxuriösen, mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten versehenen Lebensstil, der sein abruptes Ende mit der russischen Revolution fand. Lediglich die auf dem Dachboden des Hotels eingelagerten unzähligen Kisten mit feinster Kleidung, die nach 1918 obsolet geworden war, erzählten vom Glanz vergangener Tage.
Nicht nur das Hotel, die ganze Côte d‘Azur musste sich danach neu erfinden. Ein Glückszufall, der dem in einem der vielen Kasinos in nichts nachstand, war ein neues junges, extrem wohlhabendes Klientel aus Amerika, das diesen Landstrich in den 1920er Jahren für sich entdeckte und vereinnahmte. Die reiche Erbin Sarah Murphy mietete sich zusammen mit ihrem Künstlergatten Gerald im Winter vor genau 101 Jahren dort ein. Sie erreichte, dass das Hotel nicht wie üblich im Mai geschlossen wurde, sondern seine Türen auch in den warmen Monaten für sie geöffnet hielt. Ab da wurde der leichte körperfreundliche Sommer zur Lieblingsjahreszeit der Gäste erkoren. Die Murphys wussten sich zusammen mit ihren Freunden Picasso oder Coco Chanel am Strand beim Sonnenbaden und Feiern attraktiv in Szene zu setzen. Die Modedesignerin entwarf dazu die passende lässig-elegante Kleidung, die dem flamboyanten Lebensstil perfekt entsprach. Sie waren die Vorboten für die goldenen Zeiten der blauen Küste in den 60er Jahren als die Prominenz in Scharen kam.
Aber da man an der Côte d’Azur „so teuer leben (kann), wie nur an einigen Punkten der Erde – und fast so billig wie im Fischerdorf,“ braucht es auch heute keine ungehörigen Summen auf dem Bankkonto, um die Schönheit dieser Gegend entdecken zu dürfen. Wer nicht über Millionen verfügt, darf dennoch schwelgen in den Extravaganzen derjenigen, die darüber verfügten. Einer der entzückendsten Orte an der Küste ist das Anwesen, welches sich eine rokokoverliebte Baronin am Beginn des 20. Jahrhunderts direkt über dem Meer errichten ließ. In letzter Minute schnappte sie dem belgischen König das Grundstück vor der Nase weg. Nichts an diesem unwegsamen felsigen Stück Küste ließ darauf schließen welches Wunderwerk Béatrice Éphrussi de Rothschild hier unter größter Anstrengung entstehen ließ. Vor der Kulisse des tiefblauen Wassers, das das Cap Ferrat von drei Seiten aus umgibt, erhebt sich der eklektizistische rosa Märchenpalast, der wiederum eingebettet liegt in ein prächtiges Blumenmeer. Es ist eine jener ungenierten Reichtumsbekundungen, die für die Vermögenden der ausgehenden Belle Époque so charakteristisch waren.
Nur selten weilte die Baronin in ihrer Villa, die mit feinsten Möbeln, Kunstwerken und Porzellan ausgestattet war. Bei ihrer Anwesenheit musste alles minutiös ihren Wünschen entsprechen. So gab die Hausherrin vor, dass alle Gärtner sich wie Matrosen zu kleiden hätten, um ihr den Eindruck zu vermitteln, sie wäre eigentlich auf einem meerumtosten Schiff unterwegs. Auch nach der Öffnung für das allgemeine Publikum, so lautete Béatrices Wunsch, sollte das Haus den Charakter eines Salons beibehalten. Er wurde erfüllt. Niemanden würde es verwundern, wenn Madame, die stets in rosa gekleidet war, sich im reizenden Parkcafé an den Nebentisch setzen und ein Glas Champagner zur Erfrischung bestellen würde. Dieses in seiner Einzigartigkeit die ästhetischen Wünsche und Vorlieben einer kapriziösen Adligen darstellende Anwesen ist in gewisser Hinsicht die Kulmination aller Sehnsüchte, die mit der französischen Riviera verbunden werden können.
Ein Künstler, den die Baronin besonders liebte, wuchs in der unmittelbaren Nachbarschaft auf. Das feine Raffinement Jean-Honoré Fragonards kann man demnach nicht nur in der rosafarbenen Villa Éphrussi bewundern, sondern auch in seiner Geburtsstadt Grasse. Bei sommerlichen 34 Grad begeben wir uns auf eine leicht verwirrende Spurensuche. Heißt doch eines der berühmtesten Parfümhäuser der Stadt als Hommage an den Rokokomaler ebenfalls „Fragonard“. Eugène Fuchs, der Unternehmensgründer, intendierte 1926 mit der Wahl des Namens eine Verbindung zwischen seinem Parfumhaus und der Raffinesse der Künste des 18. Jahrhunderts. Neben vielerlei Museen und Ausstellungräumen identischen Namens betört die leicht versteckt gelegene kleine „Villa Musée Fragonard“ ganz besonders. Um 1700 errichtet, wurde sie am Ende des 18. Jahrhunderts vom Cousin des Malers erworben. Während seines Aufenthalts in Grasse beschäftigte sich Fragonard mit der Dekoration des Hauses. Antikische Themen in strenger Grisaille bedecken bis heute die Wände und muten ganz ungewöhnlich an für den sonst in sinnlichen Pastelltönen schwelgenden Rokokokünstler. Im großen Salon hingen damals auch die vier unter dem Titel „Fortschritte der Liebe im Herzen eines Mädchens“ bekannten Gemälde, die von Madame Du Barry 1771 in Auftrag gegeben und dann abgelehnt worden waren. Erst kürzlich bestaunten wir die mittlerweile in New York in der Frick Collection befindlichen Werke. (Siehe dazu den Blogartikel „Gedanken zu einer Reise nach New York – Zweiter Teil“) Sie zählen mit zum Schönsten, was die Malerei hervorgebracht hat.
Edmund Burke, einer der großen Denker des 18. Jahrhunderts, stellte fest, dass solche Bilder aufgrund ihrer Schönheit in der Lage seien zärtliche Gefühle im Betrachter zu erwecken. Er grenzte die Schönheit so von der Erhabenheit ab, die hingegen die einzigartige Empfindung eines „delightful horror,“ eines herrlichen Genusses am Schrecken, hervorzurufen im Stande sei. Wiederum ist es ein glückvoller Zufall, dass wir an der französischen Küste nicht nur Schönes sondern auch Sublimes entdecken dürfen. Die Ausstellung „Turners sublimes Vermächtnis“ huldigt im Grimaldi Forum dieser hehren Empfindung. Bis man dahin gelangt, gilt es jedoch den Wahnsinn der Straßen Monte Carlos zu überwinden. Kein Zentimeter scheint ungenutzt und wo überhaupt kein Fleckchen Erde mehr zu holen ist, wird immer weiter in die Höhe gebaut. Exorbitant müssen die Mieten in diesen an die Felsen geklebten steinernen Aufbewahrungstürmen sein, schließt man von den viel zu mächtigen Autos, die sich durch die engen, von Baustellen belasteten Gassen quälen. Monaco ist weltweit der Staat mit der höchsten Bevölkerungsdichte pro Quadratkilometer. Fast apokalyptisch erscheint dieses Babylon der Reichen, molochartig das Gleißen und Getöse, obszön die menschliche Hybris.
Welch einen wohltuenden Kontrast zur Außenwelt entfaltet die großzügig kuratierte Ausstellung in den kühl-dunklen Hallen, die den englischen Maler in mannigfachen kunsthistorischen Bezug setzt. James Turrell schickt den Besucher als Hommage an den „Maler des Lichts“ gleich zu Beginn in seinem in tiefe Blautöne getauchten Raum auf eine koloristische Reise, die anmutet, als könne man in die Farbfluten Turnerscher Gemälde eintauchen. Noch hintersinniger gestaltet Katie Paterson ihren Dialog mit dem englischen Künstler, der sich bekanntlich intensiv mit Natur- und Himmelsphänomenen auseinandergesetzt hat. Eine kleine monochrome Studie zum Vollmondlicht, das bei Turner nahezu sonnenartige Kraft besitzt, zeugt feinsinnig von seiner fast wissenschaftlichen Beobachtungsgabe, die niemals das Ästhetische außer Acht lässt. Beide Aspekte finden sich auch in Katie Patersons Installation „Totality“. 10 000 winzige spiegelnde Bilder totaler Sonnenfinsternisse, die jemals von Menschen dokumentiert wurden, sind auf eine sich drehende, von gleißendem Licht bestrahlte Diskokugel geklebt. Ein paar Sekunden in diesem Raum und die Suggestion, man sei Teil des Universums, ist perfekt. Von strenger Nüchternheit hingegen sind die erschreckenden Fotografien Olafur Eliassons. Sie dokumentieren den bedrohlichen Rückzug der Gletscher in der Schweizer Bergwelt. Eliasson entwickelt künstlerisch stringent das bei Turner präsente Thema der Abhängigkeit des Menschen von der Natur in die für die Gegenwart real gewordene Zerstörung der Natur durch den Menschen. Jene unabdingbare Interdependenz bestimmt auch die Videoinstallation von John Akomfra. Auf drei großen Leinwänden diskutiert der Künstler die Verbindung des Menschen zum Ozean in aller Vielfalt: Bilder von überwältigender Ästhetik werden Augenblicken größtmöglicher Brutalität gegenübergestellt. In zeitgenössischer Weise zeigt „Vertigo Sea“ das gesamte Beziehungsspektrum, so wie es Turner mit seinen Mitteln im 19. Jahrhundert tat.
Aber nicht nur inhaltliche auch ästhetische Beziehungsfäden spinnt die Ausstellung gekonnt. Die Nähe des englischen Künstlers zu Rothko ist so augenfällig, dass die Gegenüberstellung einer Seelandschaft Turners mit einem Werk des amerikanischen Künstlers nahezu zwingend notwendig erscheint. Rothkos humoriges Zitat „Der Mann hat viel von mir gelernt,“ steht als sinnfällige Überschrift über dem Bilderpaar. Die Modernität Turners ist stupend. Würde man einige der formauflösenden, nur aus Licht und Farbe bestehenden Venedigstudien in einen Cy Twombly Raum hängen, es würde niemandem auffallen. Nicht nur aufgrund des erstklassig kuratierten Konzepts und der spektakulären Leihgaben ist diese Ausstellung etwas sehr Besonderes. Sie vermag neben dem Erwecken des „delightful horror“ einmal mehr das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie fragil vernetzt und schützenswert sowohl der natürliche als auch der kulturelle Lebensraum des Menschen ist.
So rasch wie möglich gestalten wir die Abfahrt aus Monte Carlo. Freundlich weisen im metertief in den Felsen geschlagenen Parkhaus die Schilder den Weg. Die Entscheidung ist aufgrund des Zwergstaates einfach. Rechts geht es nach Italien, links nach Frankreich. So verlockend natürlich auch der Pfeil nach rechts erscheint, wir wählen dieses Mal noch die andere Richtung. „Wir fahren nach Vence, weil das auf dem Weg liegt und gewiß nicht häßlich ist,“ (es ist sogar überaus reizend!) und im Jahre 2024 außerdem im Gegensatz zum berühmten Nachbarstädtchen St.-Paul-de-Vence nicht von Reisebussen überrollt. Auch unser nächster Halt bleibt davon glücklicherweise verschont, liegt er doch in zu luftiger Höhe. Aufgrund seiner Lage in über 700 Metern wird Gourdon auch liebevoll als Nid d’Aigle, als Adlerhorst bezeichnet. Nicht einmal 400 Einwohner zählt das Dörfchen und bietet einen atemberaubenden Rundumblick über die Berge bis hinunter zum Meer. Auch wenn das 800 Jahre alte Schloss seit Kurzem wieder für die Öffentlichkeit gesperrt ist, kann sich der kleine Ort nicht über mangelndes Besucherinteresse beschweren. Vermutlich zeichnet dafür auch die Auszeichnung als eines der schönsten Dörfer Frankreichs verantwortlich. Selten jedoch kann man touristisch erschlossene Ortschaften erleben, die mit solch anmutiger Gelassenheit den Besuchermassen begegnen. Selbst die mittelalten Herren in grellbunter Fahrradverkleidung und nicht mehr ganz frisch, ob der zurückgelegten kurvigen Bergkilometer, die samt geschobenem Rennrad durch die hellen Gassen klackern, werden mit stoischer Freundlichkeit ertragen. Vielleicht ist für jene typische Nonchalance ja das Licht verantwortlich, das hier „härter und heißer, zugleich satter, blühender und trockener ist; italienisch, aber manchmal schon mit einem afrikanisch dürren Einschlag; und dieser Einschlag wiederum französisch gemildert, gleichsam durchzivilisiert, zarter, zärtlicher gemacht.“
https://www.villa-ephrussi.com/en
https://www.museesdegrasse.com/de/vorstellung-der-villa
https://www.grimaldiforum.com/en/
Alle wörtlichen Zitate in diesem Text entstammen dem äußerst lesenswerten Buch:
Erika und Klaus Mann: Das Buch von der Riviera (Erstausgabe von 1931)