Gedanken zu einer Spätsommerreise in den Süden
Fondation Maeght, Kartause La Verne, Mantua, Palazzo del Te, Palazzo Ducale, Alberti, Mantegna, Sant‘ Andrea
„Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.“ Auch wenn unsere Reise nicht auf Goethes Spuren nach Rom führt, gilt diese so knapp wie klug formulierte Erkenntnis natürlich dennoch. Die wieder erlangte Freiheit fühlt sich nach langen Corona Restriktionen nicht mehr selbstverständlich an und ist deshalb umso kostbarer.
Vigevano, ein kleiner, südlich von Mailand gelegener Ort, wo sich vor geraumer Zeit die Römer den Karthagern unter Hannibal geschlagen geben mussten, ist der erste Zwischenhalt. Heute rühmt man sich dort selbstbewusst des schönsten Platzes Italiens. Das Zentrum ist tatsächlich bezaubernd, die schräg stehende, immer noch wärmende Abendsonne durchflutet den Platz golden.
Auch wenn Landesgrenzen durch Corona wieder sichtbar geworden sind, gestaltet sich die Weiterreise nach Frankreich ohne Hindernisse. Die Pinienkronen werden üppiger, das Sonnenlicht hellt sich auf, die Farben werden intensiver je weiter wir nach Süden kommen. Nah an der Küste der französischen Riviera befindet sich ein besonderes Kleinod. In der Fondation Maeght in Saint Paul de Vence ist der hochelegante Traum einer Verschmelzung von Natur und Kunst in exzellenter Weise wahr geworden. 1964 eröffnete das Sammlerehepaar Maeght seine Stiftung. Sie besteht aus einem Gebäudekomplex, in dessen Innenräumen und Außenbereichen Werke von Giacometti, Miró, Calder, Chagall und vielen anderen zu sehen sind. Die crème de la crème des 20. Jahrhunderts ist hier versammelt. Von schlichter Innigkeit ist die kleine Kapelle, die im Andenken an den früh verstorbenen Sohn des Paares errichtet wurde. Ein spanisches Kruzifix aus dem 12. Jahrhundert ergänzt das in seiner Einfachheit so expressive Glasfenster Braques auf vollendete Art. Unerheblich, dass zwischen den beiden Werken nahezu tausend Jahre liegen. Kunst und Frömmigkeit werden eins.
Von spielerischer Leichtigkeit hingegen zeigt sich das Fischemosaik am Grund eines Bassins. Subtil verbindet es die Gartenflächen mit den Museumsräumen durch das flirrend in der Wasserfläche sich spiegelnde Sonnenlicht.
Das eigentliche Ziel dieser Reise jedoch ist das von Legenden umwobene Saint Tropez. Ob man will oder nicht, der Klang dieses Städtenamens malt ein Bild im Kopf. An wenigen Stellen wird erahnbar, wie reizend dieser Ort früher einmal gewesen sein muss, bevor die Touristenmassen kamen. Umso trauriger stimmt mich die Gegenwart. Zu gewaltig türmen sich am Meereshafen die Yachten, sodass der Blick aufs Wasser versperrt wird und die Promenade einer Hochhausschlucht gleicht. Zu offensichtlich nimmt sich die Zurschaustellung der eigenen Persönlichkeit vieler mittels kostspieliger, jedoch ermüdend häufig schon gesehener Codes aus. Zu groß sind die vielen Autos, die sich durch die engen Gassen quälen. Zu laut gebärden sich diejenigen, die vielleicht ebenfalls auf der Suche nach dem früheren Zauber dieses Ortes sind.
Wer eine aufrichtige, nahezu überirdische Stille sucht, wird sie woanders finden. Jenseits der großen Städte erhebt sich im hügeligen, bereits etwas unwegsamen Hinterland die Kartause La Verne. Die Fahrt dorthin gestaltet sich schwierig. Vor nicht allzu langer Zeit wüteten in den Pinienwäldern verheerende Brände, die die ehemals grüne Landschaft in ein apokalyptisch schwarzes Szenario verwandelt haben. Das Kloster blieb glücklicherweise unversehrt. Es stammt aus dem 12. Jahrhundert. Die Architektur war den Ordensregeln der Kartäuser, deren oberstes Gebot die Stille und einsame Einkehr der Mönche war, unterworfen. Die überdimensionalen Mauern, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Zerstörung und Plünderung erfahren hatten, stets jedoch wieder aufgebaut wurden, symbolisieren in ihrer Monumentalität die Trennung der weltlichen Welt von der geistigen der Klosterbewohner. Ein kleiner Bereich des beeindruckenden Gebäudes kann besichtigt werden. Große Teile des Klosters sind aber nur für die heute dort lebenden Schwestern zugänglich. Kein stärkerer Kontrast lässt sich denken, als der eines ausschließlich Gott gewidmeten Lebens, dessen Grundpfeiler Gebet, Stille und Einsamkeit sind, zum menschlichen Treiben in der glitzernden, nur wenige Kilometer entfernten Stadt an der Côte d’Azur.
Um das Urlaubsende gebührend zu beschließen, führt die Rückreise über Mantua. Welch ein Segen, dass so viele italienische Städte mittlerweile Autos rigoros aus ihren Zentren verbannen und dadurch ein völlig neues Erleben ermöglichen. Die Unterkunft liegt so zentral, dass die zur vollen Stunde schlagenden Kirchenglocken von Sant‘ Andrea die Nachtruhe erschweren. Aber natürlich verzeiht man das gerne. Denn Mantua, die Stadt der Gonzaga, hat alles, was eine italienische Stadt so liebenswert macht. Sie ist lebhaft, aber nicht überlaufen. An jeder Ecke gibt es eine hübsche kleine Bar, in der man einen Negroni trinken kann zu dieser einen besonderen Stunde am Abend, die es nördlich der Alpen nicht zu geben scheint. Die überbordende kunsthistorische Relevanz ihrer Stadt integrieren die Mantovesen dabei mit unglaublicher sprezzatura in ihren Alltag.
Vieles scheint seit 22 Jahren unverändert. Und dennoch erinnere ich mich an meinen so anders gearteten ersten Besuch des Palazzo Ducale. Ich war damals die einzige Besucherin. Heute ist der Einlass mit Zeitfenstern durchgetaktet. Die strenge, sekundengenaue Zeremonie amüsiert uns dann doch hinsichtlich des nicht gerade überbordenden Besucheraufkommens. Wo man früher eine Stunde lang durch menschenleere Gänge streifen konnte, wird man nun auf schnellstem Wege zum Highlight des Plastes geleitet: der camera degli sposi. Laut ist die Stimme der Dame, die darauf hinweist, dass das Verweilen nicht länger als 5 Minuten gestattet sei.
Die Fresken dieses im Verhältnis kleinen Raumes, der als Schlafzimmer aber auch für repräsentative Zwecke genutzt wurde, sind immer noch hinreißend in ihrer lebhaften Frische, Heiterkeit und Innovationsenergie. Andrea Mantegna, Lieblingskünstler der Gonzaga, war einer der großen Neuerer der Kunst. 1460 zum Hofmaler ernannt, hatte er viele Privilegien inne: Er durfte ein Wappen führen, bekam ein eigenes Jagdrevier zugewiesen und konnte sich auf dem von der Fürstenfamilie geschenkten Grund ein selbst entworfenes großzügiges Anwesen erbauen, das als erstes Künstlerhaus der Neuzeit gilt. Der Künstler zeigt nun auch mittels seiner Wohnstätte seinen zu jener Zeit neuen sozialen Anspruch innerhalb der Gesellschaft.
Während seiner Hofmalerstellung war Mantegna auch in anderen Städten tätig, sein Meisterstück aber ist unbestritten die Wand- und Deckendekoration im Palazzo Ducale. Mit einer solch atemberaubenden Verve katapultierte er den Realitätsanspruch, den die Kunst zu jener Zeit entwickelte, in seine Malerei, dass diese immer noch sprachlos macht. Hauptmotiv der Bilderfolge ist die fürstliche Familie in typischen, ihrem Stand entsprechenden Handlungen und Gebärden. Man geht zur Jagd, empfängt hochrangige Gäste und betont durch die expressiven Kinderporträts und die Sonderstellung der Markgräfin den dynastischen Charakter der Darstellung. Zur Seite geschobene Vorhänge suggerieren einen nahezu perfekten Illusionismus, der seinen Höhepunkt an der Decke findet. In dieser gemalten Himmelsöffnung wurde zum ersten Mal das Prinzip des di sotto in su verwendet. Der Maler hat bei seiner Komposition den Betrachterstandpunkt im Blick und konstruiert das Bild deshalb in dieser extremen Untersicht.
Viel wurde diskutiert über den Zweck dieses kleinen gemalten Stückchens bewölkten Himmels mit seinen Putten, Tieren und des gefährlich nah am Rand stehenden Blumentopfs, über den sich die Frauen so erheitern. Vielleicht ist die Erklärung so einfach wie raffiniert. Mantegna verblüfft uns, er lässt uns staunen, er erheitert uns mit seinem spielerischen Spektakel. Und das gelingt ihm mittels höchster malerischer Perfektion heute so bravourös wie vor über 500 Jahren.
Ab 1524 entschloss sich der junge Federico II. etwas außerhalb des Zentrums einen zweiten Palast zu errichten, der aber nur dem Vergnügen und der Repräsentation dienen sollte und damit dem Typ der villa suburbana entsprach. Giulio Romano, ein Schüler Raffaels und neuer Hofkünstler, schuf eines der beeindruckendsten manieristischen Bauwerke. Gegen den Strich bürstet er die auf Harmonie und Ausgeglichenheit hin ausgerichteten Prinzipien der Renaissancearchitektur und lässt schon einmal eine Triglyphe aus dem Metopenfries rutschen.
Die Innenräume stehen der Architektur in ihrer Extravaganz in nichts nach. Es gibt einen Raum, in dem der Herzog seine Lieblingspferde porträtieren ließ und die berühmte sala dei giganti, in der sogar das Mauerwerk in seinen Grundfesten malerisch erschüttert wird. Krachend schlägt es auf die anmaßenden Giganten nieder, über denen Jupiter an der Decke triumphiert.
Zum Abschied steht der Besuch einer meiner Lieblingskirchen an, die in ihrer ästhetischen Aufrichtigkeit und eleganten Formdurchdringung ihresgleichen sucht. Albertis Kirche Sant‘ Andrea läutet die Hochrenaissance ein. Nicht leise und zurückhalten, sondern laut und fulminant strotzt sie vor Neuerungen: zum ersten Mal verbindet ein Architekt die beiden antiken Elemente einer Tempelfront und eines Triumphbogens an einer christlichen Kirche. Zum ersten Mal finden sich an der Fassade Kolossalpilaster, also Wandvorlagen, die sich nicht mehr an die begrenzende Höhe der Stockwerke halten. Zum ersten Mal bereitet das Äußere der Kirche den Gläubigen mit stringenter Konsequenz auf das Innere des Raumes vor. Die Fassade zeigt exakt ein Element des Wandaufrisses des Innenraumes, den man jedes Mal wieder nur staunend betreten kann. Monumental wölbt sich die kassettierte Tonne über dem Haupt. Keine zarten korinthischen Säulen würden es vermögen dieses zu tragen und so erschafft Alberti hier den über Jahrhunderte hinweg verbindlichen Typ der Wandpfeilerkirche, denn die stützenden Pfeiler werden mit der Wand verbunden.
Nur mäßig beleuchtet zeigt sich das Langhaus, damit die Lichtfülle in der zentralen Kuppel umso heller strahlen kann. Obwohl die Grundsteinlegung im Juni 1472 erst wenige Wochen nach Albertis Tod erfolgte, geht nahezu die komplette Planung der Kirche, die er selbst als „geräumig, dauerhaft, würdig und glücklich“ beschrieb, auf ihn zurück.
„So viel Welt wie möglich so eng als möglich mit sich zu verbinden.“ Das sah Humboldt als Ziel der menschlichen Bildung an. Dies scheint auf Reisen besonders gut zu gelingen, womit wir wieder am Anfang bei Goethe wären….