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Gedanken zu einer Reise nach Lens, Paris und Basel

Louvre Lens, Amiens, Louvre, Chateau Malmaison, Musée de l'Orangerie, Palais Galliera - Musée de la Mode de la Ville de Paris, Fondation Beyeler

“Ich  habe wahrhaftig nicht die Dinge auf die Spitze gestellt, sondern die  Dinge haben mich auf die Spitze gestellt, auf die Spitze der Welt, auf  Paris!“

Mit  diesen Worten beginnt 1831 der angehende Paris Liebhaber Heinrich Heine  seinen allerersten Brief aus der neuen Wahlheimat an seinen Freund Karl  August Varnhagen. Auch für mich wird diese Stadt immer die Spitze der  Welt bedeuten. Und da Vorfreude bekanntlich die schönste Freude ist,  zögern wir auf unserer Reise das Ankommen in Paris mit einem kurzen  Zwischenstopp in Lens etwas hinaus. Luftig, fast filigran erhebt sich  hier die Louvre Dependance von Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa vom  Architekturbüro SANAA auf einer kleinen Anhöhe. Die matt reflektierende  Oberfläche der Außenwände des Museums kreiert ein verwirrend  schimmerndes Spiegelbild der frühlingsheiteren Landschaft, in die das  Gebäude so ästhetisch gebettet liegt. Der spektakuläre Bau sollte die  strukturschwache Region in den Fokus einer kulturinteressierten  Öffentlichkeit rücken. Mit Hilfe eines gigantischen  Kulturförderprogramms erhoffte man sich vor 10 Jahren im ehemaligen  nordfranzösischen Kohlerevier um Lens den Bilbao Effekt auslösen zu  können.

Besucherströme  sind es jedoch (glücklicherweise) noch nicht, die das Gebäude  bevölkern. Vornehmlich fröhlich laute Schulklassen und einige  Seniorenreisegruppen durchqueren die weitläufige Eingangshalle. Klar und  übersichtlich gliedert sich dieser zur Grand Galerie weiterführende  Bereich. Hier ist seit 2012 die sogenannte Galerie du Temps mit  Leihgaben aus dem Louvre in Paris eingerichtet. Auf 3000 Quadratmetern  werden erlesenste Kunstwerke aus über 5000 Jahren Kulturgeschichte  präsentiert.

Mit  atemberaubend schwereloser Eleganz erstreckt sich der großzügige,  leicht abschüssige, hürdenlose Raum in die lichthelle Tiefe. Vor unseren  Augen breitet sich die Vielfalt menschlicher Kulturleistung aus. Keine  Gänge und Pfade, weder reeller noch didaktischer Natur werden den  Besuchern vorgeschrieben. Lediglich der dezente Jahresstrahl an der  rechten Längsseite des Raums weist zurückhaltend den Weg Richtung  Gegenwart, deren vorläufiger Endpunkt hier in Lens, wie auch im  Mutterhaus in Paris, die Zeit um 1800 darstellt. Kein geringerer als  Napoleon persönlich reitet am Ende der Ausstellungshalle seinem  Niedergang entgegen.

Jedoch  welche Pracht entfaltet sich bis dahin. Wir lassen uns treiben,  bestaunen die steinernen Zeugnisse weit entfernter Zeiten, in denen sich  die menschliche Figur ihre Bewegungsfreiheit erst langsam erarbeitet,  um sie dann mit voller physischer Opulenz in der hellenistischen Zeit zu  zelebrieren, bevor das christliche Mittelalter zwar zunehmend auch das  farbige Gemälde entdeckt, jedoch dem Bild des Menschen in der Kunst  wieder eine große Strenge und Zeichenhaftigkeit auferlegt.  Fremd-faszinierende Einzelstücke aus dem Nahen Osten, Ägypten und auch  Übersee lehren uns begreifen, dass der europäische Blick nur einer von  vielen ist. Die von uns doch immer noch als selbstverständlich  angesehene Formensprache verliert durch ihr fremdes Gegenüber ihren  normativen Charakter.

So  schwelgen wir in Rubens‘ Farbenpracht, sehen ehrfürchtig auf Raffaels  prächtige Vizekönigin von Neapel, Isabel de Requesens, und sind berückt  von der Zartheit, mit der der so schwierige Künstlercharakter Rembrandt  seine junge Freundin Hendrickje Stoffels sacht und behutsam auf die  Leinwand bannte. Wie lebensnah, ja fast lebendig diese Bilder die  Dargestellten in unsere Gegenwart holen, wird im direkten Vergleich mit  einem der wenigen osmanischen Porträts eines Sultans verblüffend  deutlich.


Wir  streifen durch Zeit und Raum, gehen voran und wieder zurück, wandeln  von links nach rechts, je nachdem von welchem Exponat unsere  Aufmerksamkeit gefangen wird. Selbstbewusst erhält jedes der Objekte den  Platz, den es benötigt. Kein Kunstwerk wird an die Wand gerückt, alle  sind frei im Raum aufgestellt und können so von jeder Seite betrachtet  werden. Die Gemälde wurden an kleinen, umgänglichen Stellwänden zu  beiden Seiten gehängt, sodass auch der „Rückweg“ durch die Galerie ein  beeindruckendes Erlebnis bleibt. Dankbar verlassen wir diesen  hoffnungsvollen Ort, der zeigt, dass Kultur ein von Menschen  geschaffener imaginärer Einheitsraum ist, der uns alle verbindet.

Nur  kurz ist unser Aufenthalt in Amiens, wo wir der lächelnden Goldenen  Jungfrau, der Vierge dorée am Trumeaupfeiler der Kathedrale einen Gruß  zuwinken. Unsere Fahrt durch die frühlingshafte Blütenfülle  Nordfrankreichs gleicht einer Reise durch ein Landschaftsgemälde Corots.  Der sonnenhelle Überschwang ist von solch überwältigender Schönheit,  dass sie nur von der größten Künstlerin überhaupt hervorgebracht werden  kann: der Natur.

Selbst  Paris strahlt bei unserer Ankunft im duftigen Frühlingskleid. Meine  Befürchtung, die Realität könnte an meine sehnsuchtsvollen Phantasien  nicht heranreichen, bewahrheitet sich nicht. Im Gegenteil, Paris im Mai  ist noch schöner als ich es mir ausgemalt hatte. Das Licht, das uns  empfängt ist einzigartig. Es ist nicht müde wie bisweilen bereits im  August, oder herbstlich und von Kälte durchwirkt wie im Oktober, sondern  funkelnd, warm und klar. Die verschwenderisch frischgrünen Blätter der  hohen Baumalleen wirken wie ein natürlicher optischer Filter. Im Moment  sind sie noch nicht gezeichnet von den trockenen staubigen Monaten des  Sommers. Jetzt bergen sie alle Energie in sich. Wie stets und jedes Mal  aufs Neue bin ich von der Schönheit dieser Stadt berauscht. „Obendrein  bestehe ich jetzt ganz aus Phosphor,“ schrieb Heine einmal aus Paris.  Wie sehr spricht er mir aus der Seele: »Ich fand alles so amüsant, und  der Himmel war so blau und die Luft so liebenswürdig, so generös.«

Selbst  die Besucherschlangen vor dem Louvre, das entwürdigende Massengedränge  im vielleicht schönsten Museum der Welt, scheint nur deshalb irgendwie  erträglich, weil es in Paris stattfindet. Nach gefühlten Stunden des  Wartens sind wir endlich in den Ausstellungsräumen angekommen. Wir  bedauern die von Michelangelo für die Ewigkeit in Stein gefesselten  Sklaven, sehen verstohlen Canovas Amor und Psyche bei ihrer nahezu  ätherischen Umarmung zu und steigen schlussendlich die berühmten Treppen  zur noch berühmteren Nike empor. Zusammen mit Hunderten von anderen  Besuchern gehen wir diesen Weg und doch fühle ich mich seltsam ergriffen  von dieser von Menschenhand geschaffenen machtvollen Großartigkeit.

Wie  eine dunkle Masse schieben sich die Mengen den Weg entlang zur Mona  Lisa. Die Meisterwerke links und rechts im großen Galeriegang werden von  den meisten nicht mit einem Blick, sondern lediglich mit einem  Handyfoto gewürdigt. Der Raum mit dem berühmtesten Lächeln der  Kunstgeschichte ist schwarz vor Menschen. Es ist nahezu unmöglich die  anderen Bilder dort zu betrachten. Ich werde wehmütig, empfinde Mitleid  mit der Kunst. Was würde ich dafür geben nur wenige Stunden hier allein  sein zu dürfen.

Letztendlich  ist diese Überflutung aber nur das Resultat einer Museumspolitik, die  bereits aus den Anfangsjahren der Institution stammt. Unter dem ersten  Direktor Vivant Denon – nach ihm ist bis heute einer der Flügel benannt –  war es das erklärte Ziel, den Louvre zu einer staatlichen  Erziehungsinstitution zu machen, in der jedem der Zugang zur Kunst  möglich sein sollte.


Bereits  während der 1770er Jahre war der Louvre für Zusammenkünfte und  Ausstellungen der Académie Royale de Peinture et de Sculpture genutzt  worden, die hier ihren Sitz hatte. Ein Jahr nach der Verstaatlichung der  königlichen Kunstsammlungen 1791, in den Umbruchzeiten der  Französischen Revolution, beschloss die französische Nationalversammlung  in der großen Galerie des Louvre ein öffentliches Museum einzurichten.  1793 wurde es zunächst als „Muséum Français“ eröffnet, 1796 in „Musée  Central des Arts“ umbenannt. Napoleons aggressive Kunstdiebstähle und  Ankäufe im Zuge seiner Feldzüge durch ganz Europa, ließen die Sammlungen  in einem bis dahin ungeahnten Ausmaß anwachsen. Vieles wurde  restituiert, einiges verblieb jedoch auch nach Frankreichs Niederlage  1815 im Pariser Louvre, der heute zu den drei größten Museen der Welt  zählt.

Eines  der kleinsten und zudem charmantesten Museen in der näheren Umgebung  von Paris nehmen wir uns am nächsten Tag zum Ziel. Als wohltuendes  Kontrastprogramm liegt es vor den Toren der Stadt. Hat man den  Verkehrswahnsinn hinter sich gebracht, wird es nahezu dörflich. In  Malmaison hat Napoleons erste Frau Joséphine sich ein kleines reizendes  Refugium erschaffen. Zu Zeiten ihrer Ehe mit dem Kaiser der Franzosen  diente es dem Paar als Rückzugsort jenseits der großen politischen  Staatsgeschäfte. Nach der Scheidung verbachte Joséphine hier auf äußerst  angenehme Weise ihre letzten Lebensjahre, denn dieser Platz ist ein  wahres Kleinod. Weit zurückversetzt durch eine lange Kieseinfahrt vom  Ort getrennt, erstreckt sich das lediglich eingeschossige Schlösschen.  Dass es von Beginn an nicht als repräsentativer Bau gedacht war, erkennt  man am fehlenden prächtigen Treppenhaus. Zwei kleine Stiegen am linken  und rechten Ende des Gebäudes führen stattdessen in die Privatgemächer  der ehemaligen Kaiserin, während die Enfilade des Erdgeschosses von den  Vorlieben der Besitzerin erzählen. Nach dem Abendessen wurde Billard  gespielt oder musiziert, so berichtet es eine Vertraute Joséphines.  Würde die Hausherrin in einem dieser so schlichten und doch  raffinierten, halb transparenten Empirekleider, für die sie in ganz  Europa berühmt war, auf einmal lächelnd durch die Türe kommen, man würde  sich nicht wundern, so sehr atmet dieses Haus noch ihren Geist.  Liebevoll wurde ein Großteil der Räumlichkeiten behutsam restauriert,  wie auch der blumenreiche Garten noch von der passionierten  Rosenliebhaberin Joséphine erzählt.

Zurück  in Paris ist der Nachmittag ebenfalls der Blumenpracht gewidmet, nun  jedoch in anderer Gestalt. Nach vielen Jahren besuchen wir am Ende des  Tuileriengartens die Orangerie wieder, in der sich die großflächig  angelegten Seerosen von Monet befinden. So oft gesehen, tausendfach  reproduziert, auf Regenschirme, Servietten und Kalenderblätter gedruckt,  sind sie im Original betrachtet von einer solch ruhevollen Ästhetik,  dass man sich schier darin verlieren könnte. Hineinzugleiten in das  irisierende Violett, das sich zwischen Graugrün, Blau und Rosa schmiegt,  wäre ein Wunschtraum, der unerfüllbar bleibt.

Statt  in Monets kühle Farbenpracht zu tauchen, wenden wir uns wieder dem  realen Tageslicht zu. Die kreidehellen Wege des Tuilerienparks sind von  fein zermahlenem Staub bedeckt. Um die Bassins der Springbrunnen stehen  grüne Metallstühle gruppiert. Verschiebt man sie, erklingt dieses  einmalige Geräusch, das es nur an diesem Ort gibt. Müsste ich ein  einziges Bild, ein einziges Geräusch von Paris nennen, es wäre diese  Komposition.

Freitag  den 13. Mai beginnen wir mit einem Besuch bei Christie’s. Hier steht  Michelangelos angeblich erste Aktzeichnung zum Verkauf. Klug wird diese  im Vorfeld vermarktet und vor waldgrünem Hintergrund im goldenen Rahmen  präsentiert. Im Vergleich zur späteren Zeichenkraft des Florentiners  winden sich die Männer noch etwas unbeholfen in die Senkrechte. Ein  Fresko aus der Brancacci Kapelle des Großkünstlers Masaccio war das  Vorbild für diese Studie des gerade 15-jährigen Michelangelo, die dann  einige Tage später für 23 Millionen versteigert werden sollte. Was  bezeichnet den Wert eines Kunstwerks? Sein Preis? Sagt dieser  tatsächlich etwas über die künstlerische Qualität aus? Mit diesen  Gedanken spazieren wir durch kleine elegante Straßen und gelangen zu  einem Museum, dessen Eröffnung ich schon jahrelang herbeigesehnt habe.  Im Palais Galliera wird Modegeschichte bis zurück ins 18. Jahrhundert  erzählt. Beeindruckend nahbar legt ein gelbes Rokokokleid von jener  prachtversessenen, luxuriösen Zeit des ancien régime Zeugnis ab, als es  Vorschrift bei Hofe war, ausschließlich in grand parure zu erscheinen  und die Stoffe dieser Kleider von Gold- und Silberfäden durchwirkt sein  mussten. Nur noch drei solcher Meisterwerke sind heute weltweit bekannt.


Die  Sonderausstellung des Museums ist einem der liebenswürdigsten und  talentiertesten Modedesigner der Gegenwart gewidmet. Groß war der Schock  als Alber Elbaz vor Kurzem der Corona Pandemie zum Opfer fiel. Keine  modeaffine Frau kam an den Kleidern des Hauses Lanvin vorbei, dessen  Chefdesigner Elbaz über viele Jahre hinweg gewesen war. Auch in den  phantastischen Kreationen seiner Bewunderer und Weggefährten, die nun  ihm zu Ehren für diese Ausstellung entworfen wurden, finden sich die für  Alber Elbaz so charakteristischen Elemente wie Reißverschlüsse,  diagonale Schnittführung, Ripsband und überdimensionierte Taftschleifen  in juwelenhaft aufleuchtenden Bonbonfarben wieder. Elbaz‘ so  menschenfreundlicher Art gemäß, trägt die beeindruckend kuratierte Schau  den liebevollen Titel: Love brings Love.

Welch  fulminanter Abschluss für Tage voller Schönheit, Eleganz und Anmut. Wie  dankbar bin ich, dass die Heimfahrt noch einen weiteren Zwischenhalt  für uns bereithält. Über Vézelay, wo wir die ernsthafte und doch so  individuelle Formensprache der spätromanischen Bildhauer bewundern,  reisen wir nach Basel. Die Stadt präsentiert sich sommerhell und heiter.  Die Sonne flirrt im glitzernden Rhein, wo die bunten Wickelfischlein  der ganz Mutigen, die sich vom Strom durch die Stadt tragen lassen, auf  der Wasseroberfläche leuchten. Es ist ein Schweizer Sommermärchen.  Allein diese Sonnenfreuden, die selbst der sonst so verschlossenen,  ernsthaften Stadt ein Lächeln ins Antlitz zu zaubern scheinen, wären  schon einen Besuch wert. Wir haben aber natürlich der Kunst wegen diesen  Umweg gewählt.

Georgia  O’Keeffe, die grande dame der amerikanischen Malerei des 20.  Jahrhunderts, wird in der Fondation Beyeler mit einer großen  Retrospektive geehrt. Von den grafisch abstrakten Anfängen über ihre  berühmten großformatigen Blumenporträts bis hin zu den weniger bekannten  Landschaftsansichten kann man der Malerin auf beeindruckende Weise  nahekommen, die klug, talentiert und konsequent ihren künstlerischen Weg  ging, als das für Frauen noch in keiner Weise vorgesehen war. „Nichts  ist weniger real als der Realismus. Details verwirren. Nur durch  Auswahl, Weglassen, Hervorhebung kommen wir an die wirkliche Bedeutung  der Dinge,“ schrieb sie und malte in der selbst gewählten Einsamkeit der  mexikanischen Wüste vom Sonnenlicht ausgebleichte Tierschädel von  größter Ästhetik und voller Respekt vor der Schöpfungskraft der Natur.

Wie  freundlich, dass der Wettergott mit uns ein Einsehen hat. Bei der  Abreise regnet es, sodass der Abschied von solch wunderbaren Tagen  zumindest ein kleines Bisschen leichter fällt.

www.louvrelens.fr

www.louvre.fr

https://musees-nationaux-malmaison.fr/chateau-malmaison/

www.musee-orangerie.fr

www.palaisgalliera.paris.fr

www.fondationbeyeler.ch

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