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Gedanken zu einer Reise nach Neapel

Museo Capodimonte, Museo archeologico nazionale di Napoli, Capri
Caravaggio, Annibale Carracci, Artemisia Gentileschi, Matthias Stom, Raffael, Michelangelo, Jakob Philipp Hackert, Herkules, Sappho

„…und ebenso möchte ein sogenannter neapolitanischer Bettler die Stelle eines Vizekönigs in Norwegen leicht verschmähen.“ Goethe


„Neapel, das prächtige, empfing uns mit seinem Volksgebrause und seinen Naturherrlichkeiten, seinem Himmel voll Sonnenschein, seinen amphitheatralischen Bergen voll bunter Pflanzenpracht, seiner lachenden Bucht voll Segel, seinem köstlichen Gegenüber von Inseln – das Schönste und Größte, was ich bis dahin gesehen.“ Restlos begeistert zeigte sich Kronprinz Ludwig, der spätere bayerische König auf seiner Italienreise im Jahre 1817. Nicht immer war das Urteil über die Stadt am Fuße des Vesuv so emphatisch ausgefallen. Noch im 17. Jahrhundert hatte man Neapel schlicht als ein von Teufeln bewohntes Paradies bezeichnet. Viele verschiedene Regenten hat die Region im Verlauf ihrer Geschichte kommen und gehen sehen: Normannen, Staufer, die Anjou, das Hause Habsburg, die Bourbonen und schließlich die Savoyer. Sie alle herrschten über den wilden Süden, dessen Naturschönheit in ganz Europa gerühmt wurde, dessen Andersartigkeit die Fremden aber stets irritierte. Im fortgeschrittenen Winter des Jahres 2025 versuchen wir uns nun ein eigenes Bild zu machen. Auch wenn der Bucht ob der hochhausgroßen Kreuzfahrtdampfer das Lachen vergangen ist und die allerorten anzutreffende höchst zweifelhafte Weihnachtsdekoration am ästhetischen Empfinden kratzt, staunen auch wir über die nahezu frühlingshafte Stimmung in der Stadt, die uns die schweren Jacken über den Arm werfen lässt, während der wärmeverwöhnte Einheimische sich fröstelnd in seinen Wollmantel hüllt.


Fassungslose Bewunderung

Wir beginnen unseren Stadtrundgang fernab des „Volksgebrauses“ im Museo Capodimonte. Etwas außerhalb gelegen, umgeben von einer stattlichen Parkanlage, die im Sommer den hitzegeplagten Menschen kühlende Erholung schenkt, ursprünglich jedoch der Jagd diente, hatte Karl von Bourbon ab 1738 eine neue Residenz erbaut. Von Beginn an war sie dafür bestimmt gewesen die zahlreichen Kunstschätze würdig zu präsentieren, die durch Karls Mutter Elisabeth Farnese in die königliche Familie gekommen waren. Über Jahrhunderte hinweg prägte die Sammelleidenschaft der Farnese ein erlesener Geschmack. Für diese besonderen Kunstwerke wurden bei der Errichtung des Schlossgebäudes stattliche, nach Süden hin ausgerichtete Schauräume eingeplant. Ausschließlich einem ausgewählten Publikum standen diese damals offen. Glücklicherweise ist dem nicht mehr so und der heutige Besucher darf auch ohne Genehmigung des Staatssekretariats das Museum betreten.


Bereits nach den ersten Minuten in den menschenleeren, nur zurückhaltend beleuchteten Sälen können wir dem so häufig wiederholten Satz, Rom sei für die kulturelle Bildung, Neapel nur für die leiblichen Genüsse als Ziel empfohlen, nicht zustimmen. Das Museum muss sich trotz seines derzeitigen Zustandes nicht hinter den großen Kunsthäusern verstecken. Viele Jahre bereits dauern die Sanierungsmaßnahmen an, die auch eine längere komplette Schließung nötig gemacht hatten. Nun öffnet das Museum mutig seine Türen und präsentiert sich unfertig mitten im Restaurierungsprozess, der aber seinen Reiz hat. Kann man doch schon erahnen, was in einigen Jahren hoffentlich in vollem Glanz erstrahlen darf. Gleich zu Beginn versammeln die Kuratoren ihre Trümpfe. Artemisias todbringende Judith, Carraccis tapferer Herkules sowie Caravaggios leidender Christus kommen zu einem kunsthistorischen Gipfeltreffen ohnegleichen zusammen. War man im Eingangsbereich noch dem Zauber der feinen Dame mit ihrem nicht minder eleganten Marder von der Hand Parmigianinos erlegen, eröffnet das barocke Dreigestirn nun seinen fulminanten Kunstreigen.


Nur zehn Monate verbrachte Caravaggio 1606 auf seiner Flucht aus Rom in Neapel und veränderte doch mit den beiden dort entstandenen Bildern die Malerei der Stadt nachhaltig. Vor allem sein öffentlich für jedermann zugängliches Altarbild der Sieben Werke der Barmherzigkeit, das er für die führende wohltätige Institution, den Pio Monte della Misericordia schuf und das sich bis heute an seinem ursprünglichen Standort befindet, sorgte für Aufsehen. Radikal, ja nahezu unbarmherzig führt der Künstler die im Matthäusevangelium geschilderten guten Taten, nach denen jeder Mensch beim Weltgericht beurteilt wird, in einem Bild zusammen, was zu jener Zeit in Italien noch ein absolutes Novum war. Unter dem Schutz einer Madonna, die ihren Jesusknaben nur mit Mühe auf dem Arm trägt, toben zwei muskulöse Engel mit gewaltigen Flügelschwingen. Die untere Sphäre wird von elf Personen bevölkert. Nur schwer findet man sich in dem Bild zurecht, scheidet die einzelnen Figuren voneinander. Auch die bei Caravaggio sich sonst nie im Bildraum befindliche Lichtquelle ist hierbei nur bedingt hilfreich. Fassungslose Bewunderung soll das Gemälde ausgelöst haben.


Das zweite, hier im Museum befindliche Werk steht ihm in nichts nach. Der hellausgeleuchteten Nahbarkeit des Leidens Christi kann sich auch der heutige säkulare Besucher nicht gänzlich entziehen. Wie erging es erst den Menschen des frühen 17. Jahrhunderts, die solches noch niemals zuvor gesehen hatten. Caravaggio muss als der strahlende Leuchtpunkt am Beginn des barocken Zeitalters gelten. Seine malerische Dringlichkeit, die sich in der Lichtführung, der Komposition und der nahezu naturalistischen Sinnlichkeit seiner Figuren zeigt, war revolutionär. Dementsprechend zahlreich waren seine Nachfolger, die nicht nur aus Italien stammten. Einer von ihnen war Matthias Stom, in dessen Werkschaffen man hier in Neapel einen wunderbaren Einblick erhält. Ursprünglich aus dem Norden stammend, kombinierte er das Niederländische und das Caravaggeske auf einzigartige Art. Keine lärmenden humorigen Genreszenen wählte er für seine hochrealistischen Halbfigurenbilder, sondern nahezu ausschließlich biblische Szenen, die er meist dramatisch von einer Lichtquelle in Szene setzen ließ. Die brillante Darstellung der Oberflächen verrät die nördliche Herkunft.

Auch Jusepe de Ribera ließ sich nach Stationen in Parma, Venedig und Rom in Neapel nieder. Der Spanier wurde zu einem der wichtigsten, auf Caravaggios Chiaroscuro basierenden Vertreter des sogenannten Tenebroso, einer Malweise, in der das lichtlose Dunkel dominiert und die typisch für das neapolitanische 17. Jahrhundert werden sollte. Auch wenn die teils schauerlichen Legenden zum Leben des Künstlers vermutlich aus Neid von seinen italienischen Kollegen frei erfunden worden sind, zeugen grausame Bilder wie die Häutung des Marsyas doch von der düsteren Seite der Stadt.


Als einzig würdige Nachfolgerin Caravaggios gilt vielen bis heute Artemisia Gentileschi. Etliche Jahre hatte sie in Neapel verbracht und ist mit einer besonders brutalen Version ihres Lebensthemas im Museum würdig vertreten. Der Vergleich dieser Holofernes köpfenden Judith mit dem Christus an der Geißelsäule zeigt, dass Gentileschi über die gleiche malerische Unbedingtheit wie Caravaggio verfügte und diesem in nichts nachstand.


Zum Abschluss sei aber noch ein Maler genannt, der gemeinhin als der große Antipode Caravaggios gehandelt wird. Der aus der berühmten Bologneser Malerdynastie stammende Annibale Carracci ist hier im Museo Capodimonte mit einem seiner absoluten Meisterwerke vertreten. Nicht den nüchternen Realismus, nicht das effektvolle Chiaroscuro wählte er zur Überwindung der das Ende des 16. Jahrhunderts bestimmenden manieristischen Künstlichkeit, sondern eine Rückkehr zu raffaelitischer Schönheit und ein an der Antike geschultes ästhetisches Ideal. Sein Herkules am Scheideweg zeigt all das: Der muskulöse Held sitzt noch zweifelnd und unentschlossen in einer prächtig bewaldeten Landschaft. Links von ihm bewegt sich eine Frauengestalt, deren zarte Gewänder ihre Gestalt umschmeicheln. Sie lockt ihn zu lustvollen Freuden, leichter Glückseligkeit und einem genussvollen, unbeschwerten Leben in Müßiggang und Reichtum. Zu seiner Rechten hingegen hat die züchtig gekleidete weibliche Allegorie den Arm weit ausgestreckt und weist in die Höhenzüge der Ferne. Sie beschreibt den steinigen, aber ehrbringenden Weg der Tugendhaftigkeit. „Von dem Guten und wahrhaft Schönen geben die Götter den Menschen nichts ohne Mühe und Fleiß,“ erklärt sie streng dem Zaudernden. Ach Herkules, nimm doch die Glückseligkeit, möchte man ihm am liebsten zuflüstern.


Wir schlendern durch die langen Flure, bewundern die Fülle an Kostbarkeiten unterschiedlichster Art – ist dieses Museum ja nicht nur ein kunsthistorisches – und entdecken in einem kleinen Winkel wahre Glanzstücke. Großformatige Kartons der berühmtesten Renaissancekünstler werden unprätentiös in einem Durchgangskabinett präsentiert. Raffaels Moses vor dem brennenden Dornbusch, der später im Saal des Heliodors im Vatikan als Fresko die Wand schmückte, hängt direkt neben der Zeichnung dreier muskulöser Rückenfiguren Michelangelos, die dieser für die Capella Paolina anfertigte. Vielleicht das beeindruckendste Blatt in diesem Raum ist aber eine Darstellung von Venus und Amor. Noch immer ist die Zuschreibung an Michelangelo umstritten. Die erotisch feine Sinnlichkeit der nackten schönen Frauengestalt wäre tatsächlich etwas Ungewöhnliches im Oeuvre des für seine Terribilità bekannten großen Künstlers.


Feste, Farina, Forca – Feiern, Mehl und Galgen

Erst kurz vor dem Ausgang bemerken wir ein Gemälde Jakob Philipp Hackerts. Es zeigt eine seiner typischen Ideallandschaft mit einer königlichen Gesellschaft bei der Blässhuhnjagd. Auch wenn der Künstler heute nahezu vergessen ist, steht er wie kein zweiter für die adlige Blütezeit Neapels kurz vor den Stürmen der Französischen Revolution. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts galt Hackert als der „wohllebendste“ Künstler Europas, der in einer goldenen Kutsche durch die Straßen fuhr. Ursprünglich aus Berlin stammend, kam er 1768 nach Italien und blieb im Unterschied zu vielen seiner Kollegen dort. Er fand rasch Anschluss an höchste Kreise, freundete sich mit dem einflussreichen englischen Botschafter Sir William Hamilton an, unterrichtete Goethe im Zeichnen und war Generalinspektor der Gemäldegalerie und Hofmaler Ferdinands IV. Seine Spezialität waren ideale Landschaften, die jedoch nicht völlig frei erfunden, sondern mit realen Versatzstücken versehen waren. Dieser geschickte Kunstgriff kam so sehr in Mode, dass kein wohlhabender Grand Tour Reisender Neapel ohne einen „Hackert“ verließ. In nahezu jeder englischen Privatsammlung sind die Gemälde bis heute vertreten.


Hackerts Malerei der blühenden Landschaften im Königreich beider Sizilien war jedoch reine Schönfärberei. Ein geistig nur äußerst beschränkt begabter und agierender König, der sich für nichts anderes als die Jagd interessierte, die unter seiner Ägide häufig eher einer Metzelei glich, eine willensstarke Königin aus dem Hause Habsburg, die zu Beginn ihrer Herrschaft aufklärerischen Ideen durchaus zugewandt war, diese aber zunehmend erbarmungslos unterdrückte, machten aus dem Süden Italiens ein Pulverfass. 1799 kam es zu einem kurzen republikanischen Intermezzo, das jedoch mit Hilfe des Admirals Nelson schnell beendet wurde, sodass die Königsfamilie für einige Zeit wieder installiert werden konnte. Das Strafgericht, das über die Unterstützer der Republik herniederging war grauenhaft. Die geistige Elite der Stadt wurde nahezu völlig ausgelöscht. Unterstützung bekamen die Rächer von einer Bevölkerungsgruppe, die es in dieser einzigartigen Ausprägung andernorts nicht gab: die Lazzaroni. Fast 60 000 in höchster Armut lebende, wohnungs- und arbeitslose Menschen, denen nichts gehörte außer der Lumpen, die sie am Leib trugen, soll die Stadt gezählt haben. Diese waren jedoch nicht wie in anderen Regionen Europas kurz vor 1800 an einer Veränderung der Verhältnisse interessiert, sondern hielten unverbrüchlich zu ihrem König, der aufgrund seiner Volksnähe sogar „Re Lazzarone“ genannt wurde. Die unterprivilegierte Masse, von Ferdinand immer wieder mit Geschenken und Almosen, niemals jedoch mit nachhaltigen, die Gesamtsituation verbessernden Maßnahmen bedacht, entwickelte eine selbstbewusste, unbürgerliche Kultur und stand der Monarchie als zuverlässige Stütze zur Seite.

Streift man heute durch so manche Gassen, in denen neben den Überresten prächtiger barocker Paläste verfallene Mietshäuser mit Unterkünften stehen, die das Wort Wohnung nicht verdienen, braucht man nicht viel Fantasie, sich die Verhältnisse in der damals drittgrößten Stadt Europas während des Ancien Régime vorzustellen. Überhaupt scheint mir Neapel die Stadt zu sein, in der es sich am besten in jenes Leben längst vergangener Zeiten zurückversetzen lässt. Wie vor 300 Jahren kontrastiert überall das sichtbare Elend verwirrend mit der direkt danebenliegenden überbordenden Schönheit.


Man muss nur mit einem der kleinen Boote nach Capri übersetzen, um das Versprechen eingelöst zu bekommen, dass es dieses Italien, von dem man sonst nur leise zu träumen wagt, tatsächlich gibt. Jetzt im Winter hat sich eine wohltuende Ruhe über die Insel gelegt, die den Trubel der Hochsommermonate nur erahnen lässt. Schon früher waren sehr verschiedene Menschen von Capri eingenommen. Kaiser Tiberius wählte die Insel im Jahre 26 zum Wohnort, sodass das kleine Eiland elf Jahre lang Regierungssitz des Römischen Weltreichs wurde. Manche fanden hier auch ihr Lebensglück. Über 30 Jahre lang hat Monika Mann, die ungeliebte Tochter der großen Schriftstellerfamilie, in der Villa Monaco mit ihrem capresischen Fischer Antonio Spadaro den atemberaubenden Blick über das Meer und die Faraglioni genossen. Eine Lebenserfüllung, die vermutlich nirgendwo anders möglich gewesen wäre. So lange ist es uns jedoch nicht vergönnt hier zu bleiben, denn es wartet noch ein besonderes museales Glanzstück auf dem Festland.


„… jenes Museum ist auch das Α und Ω aller Antiquitätensammlungen …“

1787 wurde das Archäologische Nationalmuseum gegründet. Es versammelt Artefakte unterschiedlichster Herkunft. Zahlreiche Fundstücke aus Pompeji und Herkulaneum, die nicht frühen Antiquitätenräubern in die Hände gefallen waren, sowie die Antiken aus der Sammlung Farnese sind unter vielem anderen in dem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert versammelt. Nicht ganz so ruhig wie auf dem Capodimonte geht es hier zu. Vornehmlich italienische Schulklassen müssen sich mehr oder minder missmutig mit der großen Geschichte ihres Landes beschäftigen. Dabei sind gerade die antiken Geschichten häufig so gut erzählt wie sie sich kein Netflixregisseur ausdenken könnte. Allzu menschlich liebten, töteten, rächten und versöhnten sich die göttlichen Olympier wofür die Künstler die fantasievollsten Formen fanden. Erneut treffen wir hier auf Herkules. Diesmal muss der berühmte Held sich nicht zwischen Tugend und Glückseligkeit entscheiden, sondern vor einer gelangweilten Teenagerschar behaupten. Der nach harten Kämpfen erschöpfte Herkules rastet seinen schweren Leib auf seiner Keule, während er versteckt im Rücken die drei goldenen Äpfel hält. Nicht weniger als 12 schwierigste Herausforderungen hatte er bekanntlich zu bestehen. Geschuldet waren diese alleinig der Eifersucht der Hera, war Herkules doch das Ergebnis eines Seitensprungs ihres Gatten Zeus‘. Über viele Jahre hinweg verfolgte sie den unehelichen Sohn ihres Mannes mit unerbittlicher Rachsucht bis es ganz zum Schluss doch ein gutes Ende nimmt und die versöhnte Hera den schwer Geprüften sogar mit ihrer Tochter Hebe verheiratet und dieser in den Olymp aufgenommen wird. Der Herkules Farnese ist die vermutlich berühmteste der vielen Repliken eines Bronzegusses des griechischen Künstlers Lysipp.


Gleich gegenüber ringen die Zwillinge Zethos und Amphion mit dem Farnesischen Stier. Er soll die Königin Dirke, die ihrer beider Mutter Antiope schwer gedemütigt hatte, zu Tode schleifen. Das grässliche Spektakel wird auf einen dramatischen Höhepunkt zusammengeführt. Viele Teile der über drei Meter hohen und mehr als 37 Tonnen schweren Skulptur, die ursprünglich aus einem Marmorblock geschlagen war, wurden erst im 16. Jahrhundert ergänzt. Das griechische Original gelangte im Zuge der Plünderung von Rhodos nach Rom. Die römische Kopie war 1545 in den Caracalla-Thermen aufgefunden worden.


Göttin der Liebe! Empfange mein Blumengebinde. Komm und erscheine uns. Fülle die goldenen Schalen. Mische mit Nektar den Wein und schenke uns eine himmlische Freude.

Nach all den Grausamkeiten tut ein bisschen Schönheit Not und natürlich hat dieses Museum auch davon in Hülle und Fülle zu bieten. Besonders anmutig windet sich eine Venus Kallipygos um die eigene Achse, um ihre hübsche Rückseite zu bewundern. Aber auch ihre zahlreich vertretenen Schwestern zelebrieren ihren marmornen Liebreiz in vielfältiger Weise, wobei die unbekleidete Venus natürlich die Beliebtheitskrone davonträgt. Den Göttinnen zur Seite stehen der Weinliebhaber Bacchus und der jugendlich anziehende Apoll. Diese Figuren sind eine einzige Feier des Lebens, des Genusses und der körperlichen Schönheit wie sie in dieser Art vielleicht nie wieder in der Menschheits- und Kulturgeschichte vorkam.


Jenes Kunstwerk, auf das ich mich jedoch insgeheim am meisten freue, da es jahrelang als Postkarte auf meinem Schreibtisch stand, hängt nun mit rostigen Nägeln in einem einfachen weiß gekalkten Raum unspektakulär an der Wand. Die früher als Sappho betitelte elegante junge Frau mit modischer Lockenfrisur, goldenen Ohrringen und nachdenklichem Blick, den Griffel keck vor die Lippen geführt, in der anderen Hand das Wachstäfelchen haltend, verkörpert eine Ikone meiner Kindheit und Jugend. Unerschöpflich war meine Vorstellung, was dieses kluge Geschöpf wohl gleich alles niederschreiben würde. Fast etwas zu nüchtern sind mir die heutigen Forschungsergebnisse nach denen das Fresko aus Pompeji eine tugendhafte Ehefrau bei ihren hausfraulichen Aufzeichnungen zeigt. Wäre sie doch Sappho geblieben, die griechische Dichterin aus dem siebten Jahrhundert v. Chr. von der Friedrich Schlegel sagte: „Hätten wir noch die sämtlichen sapphischen Gedichte: vielleicht würden wir nirgends an Homer erinnert.“ Der Verlust des Großteils ihrer Werke lässt sich leider nur beklagen, jedoch nicht revidieren. Vielleicht ist aber genau das der Reiz der Vergangenheit, dass die Würfel gefallen sind, die Tatsachen gegeben, mit denen wir Nachgeborenen uns arrangieren müssen. Es bringt in unserer unruhigen Gegenwart eine gewisse Form der Entspannung mit sich, da die Relikte früherer Zeiten eben nicht mehr nach einer Aktion oder Veränderung verlangen. Wir dürfen sein. Wir dürfen staunen. Wir dürfen uns erfreuen und – um auch mit Goethe zu schließen – „die Welt aufs schönste genießen.“ Vor allem in Neapel!


https://capodimonte.cultura.gov.it

https://www.museoarcheologiconapoli.it

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