Gedanken zu einer Reise nach New York – Erster Teil „Metropolitan Museum“
Tizian, Anguissola, Vigée-Lebrun, Labille-Guiard, El Greco, Picasso, Degas, Friedrich
„In 10 Minuten haben wir in New York mehr Farben gesehen als anderswo in 10 Tagen.“ Als Charles Dickens 1842 das erste Mal New Yorker Boden betrat, stand jenes Museum, das erst 30 Jahre später das größte Museum der Stadt, des Kontinents und – je nach Perspektive – sogar der Welt werden sollte, noch nicht. Wir hingegen steigen exakt auf den Tag genau 152 Jahre nach seiner Eröffnung die berühmten herrschaftlichen Treppen zu diesem Kunsttempel empor und sind beim Eintreten nach wenigen Minuten nicht nur von den Farben berauscht. Jedoch auch nüchterne Zahlen können die Größe dieses Ortes veranschaulichen: 130 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche, mehr als 3 Millionen Sammlungsobjekte, um die 7 Millionen Besucher pro Jahr sowie eine weltumspannend ausgerichtete Kunstschau, die 5000 Jahre Menschheitsgeschichte umfasst. Die brennende Frage nach dem Beginn des Rundgangs gestaltet sich erstaunlich einfach: Wir lassen uns vom Strom der Besucher mitnehmen. Denn anders als kürzlich im Louvre, verteilen sich die Mengen in nahezu wohltuender Weise. Die Atmosphäre ist gelassen, konzentriert und trotz der vielen Menschen kultiviert und von gespannter Neugier getragen. So schreiten wir die ehrwürdigen Gänge entlang und bestaunen all jene steinernen, teils noch vor Christi Geburt entstandenen Figuren. Mit künstlerischem Feinsinn wird hier die irdische Präsenz des menschlichen Daseins gefeiert. Wir Nachgeborenen erhalten anhand der mannigfaltigen Darstellungsweise einen Einblick in eine längst vergangene Welt, die fremd und vertraut zugleich ist.
Nicht müde wurden die Künstler von der Art des Kleidens, des Liebens, des Lebens zu erzählen und durch die Form auch immer ihr Ideal von der Schönheit zu enthüllen. Von besonderem Liebreiz sind drei grazile junge Frauen, denen leider ihre sicherlich ausnehmend hübschen Häupter im Laufe der Zeit abhandengekommen sind. Die Anmut ihrer Rück- und Vorderseiten lassen daran keinerlei Zweifel aufkommen. Welch unglaubliche Höhe die Kunst in jener Zeit erklommen hatte und mit welch aufrichtiger Freude an der Ästhetik diese sichtbar gemacht wurde, kann im Erdgeschoss in überwältigender Weise erkundet werden. Kurze Zeit darauf setzten jedoch Veränderungen in historischem Ausmaß ein: Das Auseinanderfallen des römischen Reiches, die damit verbundene politische und gesellschaftliche Instabilität, die Verlagerung der Machtzentren sowie das sich immer stärker ausbreitende Christentum führten schließlich zu einer radikalen Veränderung des Kunstschaffens. Wie mühsam ringend und doch stetig die Kunst sich das Wollen jener in der Antike so selbstverständlichen Fertigkeiten wieder erarbeitet und dann auch zugelassen hat, lässt sich im ersten Obergeschoss vortrefflich studieren. Die Bilder aus dem christlichen frühen Mittelalter setzen eine radikale Zäsur. Nicht mehr die irdische Welt, vielmehr das vom Göttlichen durchwirkte Jenseits, nicht der Mensch, sondern der Heilige stehen im Zentrum der Werke und verlangen nach gänzlich anderen Gestaltungsformen. Von ätherischem Feinsinn nehmen sich all die jungfräulichen Marien aus. Meist werden sie vom Jesuskind begleitet oder empfangen, noch vor dessen Geburt, scheu und demütig den Besuch des Erzengels Gabriel. Nach Innen scheinen mir all die zurückhaltenden Stifterfiguren gerichtet, streng umhüllt, ja fast gepanzert von der textilen Pracht der Aufmachung gegen alles Irdische. Ihr Streben ist nicht auf das sinnlich existierende Menschsein ausgerichtet, sondern auf die spirituelle Welt des Jenseits. Vielleicht kann die Eleganz der Strenge der Erscheinung sogar auf die göttliche Ordnung verweisen. Feingliedrige Hände, durchscheinend wirkende, sensibel gezeichnete ernste Gesichter von Hans Memling und seinen Zeitgenossen mittels dünnster Lasuren und noch feinerer Pinsel auf die Bildträger aufgebracht, lassen die Vermutung aufkommen, dass diese zerbrechlichen Wesen tatsächlich nicht für ein reales Dasein geschaffen sein könnten.
Erst langsam, und natürlich in Italien, wo das antike Erbe niemals völlig verschwunden war, erringen sich die Künstler wieder die jubelnde Freude an der Schönheit des menschlichen Lebens und Leibes. Sollte man es ihnen verdenken, dass sie dies so oft und gerne an der Anmut (nackter) Frauenkörper zeigen? Einmal mehr wird auch hier wieder die Präsenz dieses Bildmotivs deutlich. Aber selbst der strenge feministische Blick wird nachsichtig beim Anblick einer von Tizian in die schmelzende Landschaft nahezu hingegossenen Venus, der sich vielleicht auch noch ihr übermütiger Sohn Amor beigesellt. Es sind Bilder, die zum Schauen einladen, ja nahezu verführen, wobei es gleichgültig zu sein scheint, ob nun ein Mann oder eine Frau diese eleganten Wesen bewundert. Heute nennen wir das den homosozialen Blick, also eine Sichtweise, die auch bei einem Bildmotiv, welches das gleiche Geschlecht wie der Betrachter oder die Betrachterin aufweist, nicht primär auf ein erotisches, sondern vielmehr ästhetisches Vergnügen abzielt.
Und dieses Vergnügen könnte auch hinsichtlich der Präsentation größer nicht sein, denn erst kürzlich wurde die europäische Malerei ab 1300 inhaltlich neu kuratiert und ausgerichtet. Pragmatisch und besucherfreundlich, dabei optisch unbedingt überzeugend ist die Raumgestaltung. Strenge Linien – und ebensolches Aufsichtspersonal – halten die Besucher auf Abstand zu der überbordenden Fülle an Meisterwerken, die sich hier dicht an dicht reihen. Mit charmanter Akkuratesse lehnen die Erklärungstafeln auf kleinen, die jeweiligen Wandflächen umlaufenden, Simsen. Bestechend gelungen ist die Präsentation, die der Kunst vollumfänglichen Vortritt lässt.
Jedoch auch trotz erst kürzlich erfolgter neuer Hängung sucht man die Frau, die nicht als Bildmotiv fungiert, sondern als Erschafferin der Werke verantwortlich zeichnet, lange vergeblich. Bisweilen aber treten nun auch die Malerinnen ins Licht der Aufmerksamkeit. So entzückt das lebensgroße Porträt einer spanischen Hofdame im weißen knisternden Damastkleid von der Hand der wunderbaren Sofonisba Anguissola über alle Maßen. Ein paar Räume weiter grüßen ihre großen Kolleginnen. Von Elisabeth Vigée-Lebrun ist neben den üblichen heiter lächelnden, von schmiegsamen Pelz-, Samt- und Seidenstoffen umhüllten Adelsdamen auch das herzallerliebste Porträt ihrer Tochter Julie ausgestellt. Ihre Zeitgenossin Adélaïde Labille-Guiard beeindruckt mit jenem fast schon ikonischem Selbstporträt, das sie zusammen mit ihren Schülerinnen Marie-Gabrielle Capet und Carreaux de Rosemond zeigt. Erst langsam vermag diese faszinierende Malerin aus dem Schatten ihrer heute weitaus berühmteren Kollegin Vigée-Lebrun zu treten. Dabei wäre ihre Biografie filmreif. Labille-Guiard gründete die erste Malschule für Frauen in Europa, gehörte zu den lediglich vier zugelassenen Künstlerinnen an der Königlichen Akademie in Paris und erhielt als erste Malerin überhaupt die Erlaubnis ein Atelier im Louvre zu führen. In einer Rede vor der Nationalversammlung im Jahre 1791 plädierte sie für einen uneingeschränkten Zugang zum Studium für Künstlerinnen an der Akademie. Der Antrag wurde angenommen, später jedoch wieder annulliert. Auch auf privater Ebene schien Labille-Guiard ihrer Zeit voraus. Da eine Scheidung im vorrevolutionären Frankreich nicht möglich war, errang sie 1779 zumindest eine offizielle Trennung von ihrem ersten Gatten. Erst 14 Jahre später erfolgte die, nun durch ein liberaleres Eherecht gestattete, Scheidung. 1800, im Alter von 51 Jahren heiratete sie schließlich ihren vertrauten Jugendfreund und ehemaligen Lehrer, den Maler François André Vincent. Nur noch drei Jahre verblieben dem Paar, in denen die Künstlerin jedoch all ihre Werke nur noch mit Madame Vincent signierte.
Werden die Biografien vieler Künstlerinnen und Künstler sowie ihr Werkschaffen in der letzten Zeit durch wissenschaftliche Aufmerksamkeit und öffentliches Interesse immer präsenter und transparenter, gibt es natürlich auch weiterhin die vielen großen und glücklicherweise unergründlichen Rätsel in der Kunst. Vermeers zauberhafte Mädchen, von denen das Museum mit fünf Gemälden so viele besitzt wie kein anderes Haus, werden ihre Geheimnisse auch nach hunderten von Jahren nicht preisgeben. Still und bedächtig gehen sie ihrem äußeren Tun nach, während sie in ihrem Inneren Welten zu bewegen scheinen.
Hin und wieder unternehmen Kuratoren den Versuch den großen Rätselträgern in der Malerei durch ein spannendes Gegenüber vielleicht doch ein bisschen mehr zu entlocken als diese für gewöhnlich bereit sind zu verraten. So bestaunen wir in einem Raum das faszinierende Nebeneinander zweier Bilder von El Greco und Picasso. Hängungen, die durch Gemäldenachbarschaften Jahrhunderte zum Schmelzen bringen, waren in der letzten Zeit sehr en vogue. Häufig nur auf den schnellen Effekt hin ausgerichtet, versprachen sie meist auf den ersten Blick mehr, als sie dann inhaltlich erfüllten. Hier verhält es sich anders. Zurückgenommen und vornehmlich getragen von der gemeinsamen koloristischen Eleganz, beginnen die Bilder sich durch ihr Gegenüber zu vertiefen. Streng, frontal und unbewegt sitzt El Grecos Hieronymus bei seinen Studien. Mit tänzerischer Leichtigkeit schwingt der biegsame Rücken von Picassos Schauspieler ihm entgegen. Nur eine physische Abkehr scheint es jedoch zu sein. Die Aufmerksamkeit überwindet Rahmengrenzen mühelos, da jedem auf seine ganz individuelle Weise ein unabdingbares Interesse an der Welt zu eigen ist. Der Kirchenlehrer Hieronymus äußert sie in seinen Schriften. Der Schauspieler offenbart sie in seinen Gesten. Mit diesem Bild eröffnete Picasso seine rosa Periode, in der er seiner Begeisterung für den Zirkus und die Artistenwelt sanfte Farben verlieh.
Einer der sich ebenfalls an der Bühnenwelt nicht satt sehen konnte und nahezu kein anderes Motiv mehr kannte, war Degas. In wenigen Häusern sind seine von duftigen Tutus in die Lüfte gehobenen Tänzerinnen in einer solchen Vielzahl vertreten wie hier in New York. Aber auch diese Gemälde sollten aufmerksam betrachtet und nicht leichtfüßig übergangen werden, ob des scheinbar immer gleichen so anmutigen Sujets. Nein, Degas war einer der genauesten und schonungslosesten Beobachter seiner Zeit. Gerade jene Bilder, die so leicht und unbedarft scheinen, offenbaren im Hintergrund Abgründe. Meist sitzt da nicht nur ein feister älterer Herr in Frack und Zylinder und beobachtet die Mädchen im Vordergrund. Es ist der klassische männliche Blick des Flaneurs, der bei Degas vielleicht zum Voyeur mutiert und dem gerade in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts kein weibliches Wesen zu entgehen scheint, schon gar keine der meist armen Tänzerinnen, die oft genug noch auf gewisse Nebentätigkeiten angewiesen waren. Der Maler nimmt diesen Blick einerseits durch seine Perspektive ebenfalls ein, hält sich aber andererseits durch sein dargestelltes Bildpersonal selbst schonungslos den Spiegel vor.
Einer der auch Männerblicke in seinen Bildern schweifen ließ, diese aber niemals auf Frauen gerichtet hat, ist hier im fernen New York vertreten. Seltsam vertraut wirken die beiden Männer in der Betrachtung des Mondes von Caspar David Friedrich. Vermutlich hätte er sich sehr verwundert gezeigt, der einsame, melancholische Greifswalder, der nicht gerne reiste, wenn er gewusst hätte, dass seine zwei Freunde einmal jenseits des Atlantiks gen Himmel blicken.