Gedanken zu einem sommerlichen Ausflug nach Berlin
„Frans Hals. Meister des Augenblicks“ in der Berliner Gemäldegalerie, „Tyler Mitchell. Wish this was real“ bei c/o Berlin, „Berlin, Berlin. 20 Jahre Helmut Newton Foundation“
„Hals beherrscht darüber hinaus nicht viel, doch ist es soviel wert wie Dantes Paradies und die Werke Michelangelos und Raffaels und sogar der Griechen.“ Wer hier so enthusiastisch von dem niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts schwärmt, war kein geringerer als einer der Größten des 19. Jahrhunderts. Wie viele andere Maler seiner Zeit konnte sich auch Vincent van Gogh der Kraft der Bildwerke Frans Hals‘ nicht entziehen. Ein einziger Blick auf ein Gemälde dieses Malers verrät seine Begeisterung für den Kollegen aus der Barockzeit.
Auch wir konnten der einmaligen Gelegenheit nicht widerstehen, nach der Schau im Rijksmuseum, Frans Hals einen erneuten Besuch in Berlin abzustatten. War der Fokus in Amsterdam einzig und allein auf den Meister selbst gerichtet, tritt das Kuratorenteam der Gemäldegalerie gewissermaßen einen Schritt zurück und nimmt das Schaffen des Künstlers aus einer erweiterten Perspektive in den Fokus. Wohltuend unaufgeregt ist die große, in zurückhaltendes Dunkelblau gehüllte Ausstellungshalle gegliedert und bespielt. Gleich zu Beginn hängen die von entwaffnendem Liebreiz strahlenden Kindergesichter. Es ist ein bezaubernder Willkommensgruß der Ausstellungsmacher, denn er bestätigt den so häufig zitierten Satz Victor Borges: „Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln.“ In diesem Fall überbrückt es sogar mühelos Hunderte von Jahren.
Was uns Heutigen als freundliche Geste erscheint, war im 17. Jahrhundert eine Rarität. Der pausbäckige Knabe stellt das älteste erhaltene Gemälde der holländischen Kunst dar, das ausschließlich den Kopf eines fröhlichen Kindes zeigt. Herausfordernd sei die Darstellung des Lachens, schrieb schon Karel van Mander in seinen kunsttheoretischen Ausführungen, da es allzu leicht zur Grimasse geraten könne oder das Gesicht in unschöne Verzerrungen lege. Umso mehr muss Hals‘ Meisterschaft betont werden, all das Positive, das wir bis heute mit einem Lachenden in Verbindung bringen, hier so zauberhaft in diesem kreisrunden Gemälde verwirklicht zu haben. Vermutlich war auch dies der Zweck des Bildes: Hals wollte mit dieser Tronje, einer Gesichtsstudie, die nicht zwangsläufig einen individuellen Menschen zeigt, einen Beweis seines Könnens liefern.
Früh schon hatte Frans Hals sich auf die Porträtkunst spezialisiert. Von seiner Hand sind keine Historiengemälde überliefert. „Niemals malte er einen Christus, eine Verkündigung an die Hirten, einen Engel oder eine Kreuzigung und Wiederauferstehung; niemals malte er eine üppige, animalische, nackte Frau. Er malte Porträts; nie, nie, niemals etwas anderes,“ bemerkte Vincent van Gogh in einem seiner zahlreichen Briefe. Durchaus ungewöhnlich war dies für einen Schüler des berühmten Kunsttheoretikers Karel van Mander, der, ganz im Sinne der Zeit, die vielfigurige Geschichten erzählende Malerei zur absoluten Königsdisziplin erklärt hatte. Die Ausbildung der sogenannten Fachmaler, jener Künstler, die sich auf nur eine Gattung spezialisierten, war jedoch aufgrund des florierenden Kunstmarktes für die Niederlande des 17. Jahrhunderts typisch. Auch das zunehmend dynastisch gedachte Repräsentationsbedürfnis der wohlhabenden Oberschicht verlangte nach einer Vielzahl von Bildnissen und bereitete dem Berufsfeld des Porträtmalers eine gute Grundlage und ein sicheres Auskommen. In einem steten Konkurrenzkampf mit den Kollegen stehend, war es jedoch unbedingt geboten, sich eine unverwechselbare Handschrift anzueignen. Noch dazu, da viele Formalia wie Kleidung, Haltung oder auch Attribute häufig sehr genau von den jeweiligen Auftraggebern vorgegeben waren und dem Künstler nur wenig kreativen Spielraum erlaubten. Frans Hals ist dieser Geniestreich gelungen. Von einzigartig lebendiger Nahbarkeit treten uns all seine Porträtierten gegenüber. Auch wenn innerhalb seines Werkschaffens eine Entwicklung hin zu einer immer freieren, nahezu expressiven Malweise erkennbar wird, ist seine ganz eigene Art der Wahrnehmung des Menschen bereits von Beginn an vorhanden.
Die frühesten erhaltenen Porträts seiner Hand datieren auf das Jahr 1612 und zeigen auf zwei getrennten Tafeln ein Ehepaar. Er hält einen Totenschädel in der Hand, sie greift in die schwere goldene Kette, die um ihre Hüften liegt: Beides sind Symbole der irdischen Vergänglichkeit. Ernsthaft blickt der 60-Jährige seinem Gegenüber direkt in die Augen. Keine Regung ist seinen Zügen zu entnehmen, lediglich ein leicht sorgenvoller Zug umspielt die Augen. Etwas altmodisch wirkt die schwere schwarze Tracht, die noch an die Mode des ausgehenden 16. Jahrhunderts erinnert. Leicht verweist die rechte Hand auf seine Gattin. Auch wenn dieses Damenporträt den Sitten der Zeit gehorcht, so lässt uns Hals die hinter der steifen Haltung verborgene Neugier der jungen Frau erahnen. Die schweren Stoffe erscheinen wie ein Deckmantel, der die verhaltene Anspannung der Dargestellten nur oberflächlich verhüllt. Ihr Blick ist wach, fest, nahezu herausfordernd, die Lippen werden leicht geöffnet, als wolle sie ein Gespräch beginnen. Allein die delikate Darstellung der auch altersbedingten Wesensunterschiede der Eheleute zeigt Hals‘ großes Talent zur bildlichen Charakterisierung von Menschen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die feinen Details wie die roten Wangen der Frau oder die taktile Beweglichkeit der Hände.
Frans Hals verstand sich aber nicht nur akkurat darauf die menschliche Physiognomie in all ihrer Vielfalt wahrhaftig nachzubilden, sondern auch stoffliche Oberflächen. Seine Malerei passt sich exquisit der Meisterhaftigkeit der textilen Objekte an. Hauchzart legen sich die durchscheinend gemalten Spitzenabschlüsse über die etwas derben Handgelenke der Dargestellten. Nadelspitzen sind die vom Arbeitsaufwand her anspruchsvollsten Spitzen. Ihre Herstellung erfordert jahrelange Übung, gute Augen, hochwertiges Garn, großen Materialaufwand, viel Licht, eine ruhige Hand und sehr viel Zeit und Geduld. Immense Summen kosteten diese textilen Meistwerke, die rasch zum Distinktionsmerkmal des europäischen Hochadels, aber auch der wohlhabenden Oberschicht wurden. Die Dame auf dem Porträt verdeutlicht durch dieses Detail an ihren Ärmeln subtil aber unmissverständlich, in welche gesellschaftlichen Kreise sie zu verorten ist.
Dass Mode mehr als nur Kleidung ist und ihr Wandel mehr als eine Launenhaftigkeit ihrer Träger, kann an den zahlreichen Männerporträts von Hals‘ Hand hervorragend studiert werden. Ein sehr schönes Beispiel hierfür ist der junge Mann aus der äußerst vermögenden Familie Coymans. Kühn verweist der Maler auf die leicht blasierte Vornehmheit des Herren, zu dessen noblen Erscheinungsbild vor allem seine modische Aufmachung beiträgt. Ganz dem hochumstrittenen Zeitgeschmack entsprechend, trägt er nicht mehr die alten, den Träger durch ihr Volumen einschränkenden Krausen, sondern einen eleganten, den Hals eng umschließenden flachen Kragen. Dieses vornehm verwandelte Accessoire erlaubt zu jener Zeit den jungen Männern etwas fulminant Neues: langes Haar. Als „Haariger Krieg“ gingen die Jahre 1640-1645 in die Geschichte ein, als man vor allem von kirchlicher Seite aus gegen diese neue Mode zu Felde zog. Aber selbstverständlich ließ sich auch vor 400 Jahren niemand davon abbringen einem neuen Trend zu folgen.
So fein Hals in diesem Bildnis das Antlitz des Dargestellten zu charakterisieren vermag, so flott und nahezu skizzenhaft hat er den prominent an der Vorderseite des Bildes aufgestützten Arm gemalt. Weit ist die kostbare Brokatjacke durch die ungestüme Geste nach hinten gerutscht. Entsprechend grob setzt Hals die dicken weißen Striche neben die grauen Schattierungen. Die malerische Form entspricht der bildinhärenten Bewegung.
Aber nicht nur sein Pinselduktus wird im Laufe der Zeit immer forscher und ungestümer, nicht nur wird die Haltung seiner Protagonisten immer ungezwungener erscheinen, auch die Wahl seiner Motive wird immer freier. Wir dürfen davon ausgehen, dass Frans Hals, der mit großer Begeisterung seine Abende in den Wirtshäusern der Stadt verbrachte, auch seine Protagonisten dort direkt vor Ort getroffen hat. In seltenen Fällen, wie z.B. dem der berühmten Malle Babbe, sind diese sogar benannt. Selbst im bürgerlichen Zeitalter der Niederlande stellt diese rigorose Erweiterung der Bildwürdigkeit der Motive eine Seltenheit dar. Prostituierte, Musikanten, Trinker, beeinträchtigte Personen oder lachende Kinder nicht als Karikaturen ihrer selbst, sondern als eigenständige Individuen in all ihrer Besonderheit absolut gleichrangig wie die Herren der Schützengilde zu zeigen, ist das große Verdienst von Frans Hals. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade das 19. Jahrhundert diesen Künstler wiederentdeckte und feierte. Auch das zeigt diese schöne Ausstellung in Berlin, die nicht mit dem Tod des Künstlers endet. Sie präsentiert die Modernität eines Frans Hals natürlich im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, wirft den Blick aber noch weiter in jene Epoche, als dieser zum Vorbild vieler bedeutender Maler wie van Gogh, Corinth, Liebermann oder Leibl avancierte.
Trotz der nahezu 400 Jahre, die seither vergangen sind, bleiben Darstellung und Auseinandersetzung mit dem Bild des Menschen weiterhin die wichtigsten Aufgaben der Kunst. Auch wenn sich Techniken und Formen durch die Epochen wandeln, die Inhalte gleichen sich. Wo wenn nicht in Berlin ließe sich das vortrefflich erkunden. In derzeit zwei bedeutenden Ausstellungen stehen Fotografen im Fokus, deren Sichtweise auf den Menschen ebenfalls mehr als einzigartig zu nennen ist. Die Newton Foundation feiert ihren Namensgeber aufgrund des 20-jährigen Bestehens mit einer hochinteressanten Schau, deren Titel „Berlin, Berlin“ von der großen Fotostrecke übernommen wurde, die Newton 1979 für die europäische Vogue angefertigt hatte. Das wiederaufgelegte Magazin schickte den 1938 emigrierten Newton in seine Geburtsstadt zurück, um Modebilder an den Orten seiner Kindheit und Jugend zu fotografieren. Die Ausstellung zeigt aber weit mehr. Sie beginnt mit Newtons Werken, die noch während seiner Ausbildung bei Yva in den frühen 30ern entstanden, und spannt den Bogen in die Nachkriegszeit, als er nach erfolgreichen Jahren in Paris und Amerika immer wieder nach Berlin zurückkehrte. So realisierte Newton beispielsweise 1963 eine vieldiskutierte Modestrecke mit dem Namen „Mata-Hari-Spionage-Story“, in der die Modelle rund um die neu errichtete Mauer posieren.
Mit seinem ganz eigenen Ästhetizismus raubte er der Modefotografie so jeglichen Verdacht der Oberflächlichkeit und verlieh ihr gleichzeitig eine politische Dimension. Intelligent verknüpfen die Kuratoren die vielfältigen Ansatzpunkte in Newtons Arbeiten mit denen seiner Kollegen des 20. Jahrhunderts. Von der dokumentarischen Nachkriegsfotografie eines Jewgeni Chaldei, die das zerstörte Berlin zeigt, bis hin zu Gundlachs ikonischen Modefotografien reicht die Kontextualisierung. Besonders viel Raum wird den zurückhaltenden Pendantbildern Renate von Mangoldts eingeräumt, die im Abstand mehrerer Jahrzehnte identische Orte in Berlin zeigen. Auf berückende Weise lassen sie Zeit bildhaft werden. Wer Newton bisher nur mit seinen diskussionswürdigen Aktbildern in Verbindung brachte, sollte diese Ausstellung nicht versäumen. Sie macht deutlich wieviel reflektierende Tiefe, historische Klugheit und immer wieder melancholischer Humor sich hinter all der glamourösen Schönheit und Verführungskunst verbarg. (Aufgrund des Fotografierverbots in der Foundation bitte ich für bildliche Eindrücke die Website der Institution zu besuchen.)
Bei c/o Berlin gleich gegenüber wird der junge amerikanische Fotograf Tyler Mitchell mit seiner ersten Einzelausstellung in Deutschland gefeiert. Auch wenn die Stadt in seinen Bildern als Motiv keine Rolle spielt, tritt er dennoch mit ihr in einen Dialog: „Berlin ist eine Stadt, die mich aufgrund ihrer reichen und komplizierten Vergangenheit und Gegenwart schon lange fasziniert. (…) Ich bin gespannt, die Parallelen und Unterschiede zwischen den Erfahrungen junger kreativer Menschen in Deutschland und meinen eigenen Erfahrungen als jemand, der im Süden der USA aufwuchs und in New York City erwachsen wurde, zu erforschen,“ sagt er in einem Vogue-Interview.
Mitchell war über Nacht berühmt geworden. Als erster schwarzer Künstler schoss er ein Covermotiv für die US-Vogue. Häufig wird er als Modefotograf betitelt, was jedoch nur einen Teil seines Werkschaffens umschreibt. Seine Bilder sind von einer rätselhaften, stets suchenden Anziehungskraft. Fremd und doch vertraut locken sie mit ihrer Sehnsucht nach einem möglichen Paradies, einer Welt, die verwoben scheint aus Vergangenheit, Gegenwart und einer Zukunft, die an unendliche, ästhetische Visionen glaubt.
https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/frans-hals/
https://helmut-newton-foundation.org
https://co-berlin.org/de/programm/ausstellungen/tyler-mitchell