Gedanken zu einer winterlichen Reise ins Engadin
Sils, St. Moritz, Segantini Museum, Bündner Kunstmuseum Chur
Bergwelten und Meerestiefen
Außerhalb der digitalen Welt ist das binäre Prinzip in der letzten Zeit in Verruf geraten. Zu schlicht scheint die verlockende Einteilung der Welt in lediglich zwei Möglichkeiten, die sämtliche Zwischentöne und Nuancen ausklammert. Und doch gibt es eine Frage, die meist radikal eindeutig beantwortet wird: Liebst Du die Berge oder das Meer? Ist es die unendlich blaue Weite, das niemals auch nur eine Sekunde stillstehende Meer in seiner unergründlichen Tiefe, das die stete Sehnsucht weckt oder sind es die gewaltigen Felsmassive, die einen freudig schaudern machen, die erklommenen Höhengipfel, die den Anschein von steinerner Zeitlosigkeit in sich tragen?
Giacometti und Segantini
Im ausklingenden Jahr 2024, kurz vor Weihnachten waren die Schweizer Berge unser Ziel. Da der Winter sich erst zögerlich am zweiten Tag entschloss, seine Pracht mit üppigem Schneefall zu entfalten, war der erste Tag von feinem Nebel durchwoben. Auch wenn die geheimnisvoll verhüllten, aus grauem Schiefer gebauten, ernsten, kleinen Dörfer nicht unbedingt den Anblick boten, den man sich vom Dezember in den Bergen erhofft, entbehrte diese leise Distanz, die der Nebel zwischen uns und die Welt schob, nicht eines gewissen Reizes. Vielleicht waren es Tage von solch karger Anmutung, die den Künstler Alberto Giacometti zu seinen geborstenen Oberflächen inspirierten, zu Figuren, die rank und streng in die Höhe erwachsen, um es den Bergen gleichzutun. Seine gesamte Kindheit und Jugend sowie später viele Lebensmonate verbrachte der Künstler in der Heimat im Bergell. Auch Giovanni Segantini blieb Zeit seines Lebens der Schweizer Bergwelt verbunden, aus der er stammte. In noch viel stärkerem Maße als Giacometti prägte das Sehen und Erleben der Natur seine Motivwahl. Vermutlich hat kein anderer Maler die alpine Welt nicht nur in ihrem Aussehen mit solch kristallinem Realismus wiedergegeben, sondern auch die Stimmung, in die der Mensch versetzt wird im Angesicht solcher Größe. Ein kleines feines Museum hat das mondäne St. Moritz diesem einzigartigen Künstler eingerichtet, in das sich an einem trubeligen Adventssamstag kaum jemand verirrt. Umso entspannter lassen sich die wenigen Räume durchwandern bis man im Obergeschoss den Höhepunkt erreicht. Hier ist Segantinis berühmtes Triptychon „Leben-Natur-Tod,“ oder auch „Werden-Sein-Vergehen“ genannt, zu sehen, das ursprünglich für die Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 gedacht war. Auf drei großformatigen Leinwänden entwirft der Künstler die Vision menschlicher Existenz im Einklang mit der Natur. In einem eigens dafür zu errichtenden Pavillon hätte das gigantische Alpenpanorama gezeigt werden sollen. Da die geplanten Dimensionen noch gewaltiger als die jetzige Version waren, konnte das Projekt jedoch aus Kostengründen nicht verwirklicht werden.
Sils und St. Moritz
Ich komme nicht umhin, mir vorzustellen, was dieser Künstler, der so unverwechselbar die stille Großartigkeit der Berge und ihrer Bewohner, ihre Kraft und Würde darzustellen vermochte, zum heutigen Treiben gesagt hätte. Ihren touristischen Aufstieg nahm die Region – allen Orten voran St. Moritz – bereits zur vorletzten Jahrhundertwende. Die so überdimensionierten Prachtbauten opulenter Luxushotels zeugen immer noch davon. Nicht alle jedoch wirken ob ihrer Größe deplatziert in der Schweizer Bergwelt. Das Waldhaus in Sils fügt sich mit zurückhaltender Eleganz diskret in seine Umgebung ein. Es gestattet einem auch heute noch in weit zurückliegende Zeiten einzutauchen. Niemanden würde es verwundern, wenn nun Familie Mann mit ihrer Kinderschar ums Eck käme oder ein inkognito reisender Erzherzog sich mit Champagnerglas und Zeitung in einem der Sessel niederließe. Noch immer herrscht in diesem Haus der Geist vergangener Tage, der anderswo längst Reißaus genommen hat, spätestens seit sich die jahreszeitliche Saison vertauscht hat: Reiste man im Winter des milden Klimas wegen in den Süden Frankreichs, erholte man sich sommers in der kühlen frischen Schweizer Bergluft. Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat ein Wandel ein, wobei St. Moritz sehr smart und schnell auch das große Potential eines Wintersportortes erkannte. Hier brannte zu Weihnachten 1878 das erste elektrische Licht der Schweiz, hier ermöglichte 1935 der erste Skilift die bequeme Bergauffahrt und hier residierte der später exilierte Prinz Nikolaus aus dem Königreich Rumänien seit 1919 in der eigens für ihn erbauten Villa Margnus.
Adlige und Influencer
Was früher der europäische Hochadel war, sind heute die Prinzessinnen aus tausend und einer Nacht 2.0. Sie tragen die Kreationen, die diskret unbepreist in den Schaufenstern ausliegen. Sie wehen in Duftwolken, die kaum zu beschreiben sind, an den Normalsterblichen vorbei. Sie entsteigen Automobilen, die nicht von dieser Welt scheinen. Ihre Gesichter wirken dabei wie von Künstlerhand gemeiselt. Und wie stets in der Kulturgeschichte der Menschheit schaut das Bürgertum nach oben und kopiert, ahmt nach und versucht zumindest auf einige Meter Distanz oder mittels digitaler Filter den optischen Schein des Reichtums zu imitieren. Aus der Nähe der Wirklichkeit betrachtet sind die Ergebnisse der meist jungen Damen wenig überzeugend, wenn nicht gar fragwürdig.
Angelika und Italien
Nach weißen schneebedeckten Tagen wie im Märchenbuch fahren wir nach Chur. Hier wurde 1741 die großartige Angelika Kauffmann geboren, die mit soviel Geschick, Charme, Talent und Disziplin zu einer der gefragtesten Künstlerpersönlichkeiten ihrer Zeit avancierte und eine der sehr wenigen Frauen war, die von der Kunstgeschichte niemals wirklich vergessen wurde. Im reizvollen Altbau, der ursprünglich als luxuriöse Villa der wohlhabenden Familie Planta errichtet worden war, des ansonsten futuristisch anmutenden Bündner Kunstmuseums ist dem Kunstschaffen der großen Tochter der Stadt viel Platz eingeräumt. Das bezaubernde Selbstporträt mit antiker Minervabüste ist hier zu sehen. Auf den Punkt fasst es zusammen, warum sich alle um diese junge Frau rissen und der dänische Botschafter ganz verzückt ausrief: „The whole world is Angelika mad!“ Mit sinnend nach innen gerichtetem Blick präsentiert sie sich ihrem Gegenüber in schlichter aber geschmackvoller Kleidung während einer kurzen Schaffenspause. Anmutig hat sie sich im Dreiviertelprofil positioniert. Die Zeichenmappe ist auf dem Knie abgestellt, der Stift wurde nicht zur Seite gelegt. Es ist ja nur ein kleiner Moment der Unterbrechung unter dem wachenden Blick der Minerva, der Schutzgöttin der Künste und Wissenschaften.
Mit einem Porträt von Winckelmann, das diesen als ebenso feinsinnigen wie scharf forschenden Denker zeigt, war Kauffmann in ganz Europa berühmt geworden. Mit Goethe, der sie „die schöne Seele Angelika“ nannte, pflegte sie eine enge Freundschaft als er in Rom weilte. Die Königin von Neapel ernannte sie zu ihrer Hofmalerin. Italien wurde ab 1781 zum Lebensmittelpunkt Angelika Kauffmanns. Aus Chur stammend wählte die Künstlerin ein Land zu ihrer zweiten Heimat, das von drei Seiten vom Meer umgeben liegt.
Ich hätte es ihr gleichgetan.