Gedanken zu einem Wochenende in Paris – Erster Teil Kunst
Musée du Louvre, Fondation Louis Vuitton, Maison La Roche, Musée Marmottan Monet
Einer der drei Flügel des Louvre ist nach einem Mann benannt, der nicht nur der erste Direktor dieses von Napoleon gegründeten Museums war, sondern auch einer der größten Kunsträuber seiner Zeit. Vivant Denon – Diplomat, Museumsmann, Kunstsammler und Abenteurer – sorgte mit seinen im Auftrag des Kaisers ausgeführten Kunstbeutezügen durch die von der französischen Armee eroberten Gebiete kurz nach 1800 dafür, dass der Louvre „das größte, reichste und prächtigste Museum der Welt“ wurde. Jedoch auch nach den ab 1815 zügig einsetzenden Restitutionen musste das französische Museum einen Mangel an Meisterwerken nicht beklagen. Im Moment ergänzt der Louvre, in eben jenem nach Denon benannten Flügel, seine ohnehin stets brillante Sammlung wieder durch weit gereiste Glanzstücke. Diesmal kamen die Gemälde jedoch mit ausdrücklicher Zustimmung ihrer Eigentümer und ohne militärischen Geleitschutz in Paris an. Das neapolitanische Museo Capodimonte ist zu Besuch an der Seine und hat seine würdigsten Vertreter geschickt. Keine separierte Sonderausstellung ist für die italienischen Gäste vorgesehen, vielmehr dürfen sie zwischen ihren französischen Verwandten hängen, die seit fast 250 Jahren in der würdigen Grande Galerie, dem Herzstück des Hauses, ihren angestammten Platz haben. Das kuratorische Konzept leuchtet ein. Die Realität macht es jedoch zunichte. Trotz spätabendlicher Stunden schieben sich die Massen durch diesen Teil des Museums, hängt hier doch, man muss fast sagen – leider – jenes Bild, dessentwegen vermutlich 80 % aller Besucher in den Louvre kommen. Wie immer ist der Raum, der die Mona Lisa beherbergt, schwarz vor Menschen. Aber um dorthin zu gelangen, muss man durch die große Galerie. Ich bemühe mich redlich das von Beginn an geltende, damals hochinnovative, Konzept des Hauses, allen Bürgern freien Zugang zu den Kunstwerken zu gewähren, was bis dato nur den herrschenden und gebildeten Schichten vorbehalten war, anzuerkennen. Jenes hehre Prinzip fällt dem digitalen Zeitalter des Massentourismus jedoch nun vor die Füße. Wo einst Künstler und Künstlerinnen ihre Staffeleien zum stunden- teilweise tagelangen praktischen Studium der Meisterwerke aufstellten, begegnet uns heute das rückwärts vor dem Caravaggio stehende, fragwürdig gekleidete Instagirl in Selfiepose. Wo früher ein den Kunstwerken durch sein angemessenes Benehmen Respekt zollendes, interessiertes Publikum wandelte, fläzen heute unschön auf den wenigen Sitzmöbeln die apathisch in ihre Smartphones starrenden Touristen samt ihren zahlreichen Plastiktüten. Ein Ort der Schönheit, ein Ort, der anschaulich macht, zu welch großartigen Höchstleistungen der Mensch fähig ist, ein Ort, der für das staunend bildende Sehen und den ästhetischen Genuss geschaffen wurde, dient mittlerweile vornehmlich als flüchtige Kulisse digitaler Pseudorelevanz. Fastartkonsum scheint das ursprüngliche Bildungsgkonzept ersetzt zu haben.
Die Kunst jedoch ist zu groß, als dass sie ihre Umgebung nicht zu überstrahlen vermag. Der neapolitanische Reigen beginnt mit einem leisen kleinen Bild, das die Kreuzigung Christi zeigt. Masaccio, der Erschaffer des Gemäldes, ist jener Künstler, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts der Malerei die Perspektive schenkte. Auch wenn er hier noch mit dem tradierten Goldgrund statt elaborierter Räumlichkeit arbeitet, deutet sich in der vor Schmerz weit aus- und raumgreifenden Magdalenenfigur sein späteres nahezu revolutionäres Vermögen an, Bilder zu malen, die dem Betrachter zum ersten Mal in der neuzeitlichen Kunstgeschichte die Illusion von exakt konstruierter Räumlichkeit in der Fläche offenbaren.
Wir bewundern die kristalline Stofflichkeit der detailreich dargestellten Oberflächen einer Transfiguration Christi von der Hand des Giovanni Bellini und lassen uns vollends verführen von der geheimnisvollen Anmut und Eleganz einer unbekannten jungen Schönheit, die Parmigianino porträtiert hat. Völlig zu Recht darf sie in der ganzen Stadt auf Plakaten für die Gäste aus dem Süden werben. Vom selben Künstler hängt gleich nebenan eines der rätselhaftesten Bilder der Kunstgeschichte. In bekannt raffinierter Manier hat er eine Verkündigungsszene gemalt, die jedoch mehr einem geisterhaft erotischen Spektakel gleicht, als dem Beginn der Heilsgeschichte. Vom rückwärtigen silbrigen Licht sensationell in Szene gesetzt, erscheint der Überbringer der frohen Botschaft eher wie ein Amorknabe denn wie der Erzengel Gabriel. Maria, deren Körperformen dank der dünnen Gewänder nichts der Phantasie überlassen, wirkt mehr wie eine Geliebte als die demütige Magd Gottes. Erotik und Religion, Bibel und Mythologie, Profanes und Sakrales wurden selten auf so virtuose und häufig auch ambivalente Weise in einen solch spannungsreichen Dialog gebracht wie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Italien. Das Ausloten von Grenzen, das geheimnisvolle Spiel mit höchst unterschiedlichen Bedeutungsebenen waren neben der artifiziellen Farben- und Formensprache ein Merkmal des Manierismus.
Derjenige, der die elegant überlängten Damen, die kühlen Pastellfarben, das irreale Licht und all die anderen vielen malerischen Künstlichkeiten mit groben Pinselstrichen ein für alle Mal von den Leinwänden vertrieb, war Caravaggio. Zu den stets im Louvre präsentierten Meisterwerken dieses Künstlers, wie dem damals einen handfesten Skandal auslösenden Marientod, gesellt sich gerade noch ein weiteres hinzu. Die berühmte und so verstörend beeindruckende Geißelung Christi ist aus Neapel angereist. In gnadenloser Lebensgröße werden auch die Betrachter vom grausamen Szenario nicht verschont. Die hell ausgeleuchtete, bis auf ein gleißend weißes Lendentuch nackte Christusgestalt, windet sich unter der ihr angetanen Gewalt. Während das sanft gesenkte Haupt des Gottessohnes die Annahme seines Martyriums unterstreicht, fungiert der fast fratzenhaft brüllende Kopf des einen Schergen hinter ihm als bewusster Kontrast. Das Schlaglicht reißt ihn aus der anonymen Dunkelheit. Das Böse bekommt ein individuelles Gesicht.
Wie wirkmächtig diese Bildkompositionen waren, zeigen zwei Gemälde, die ich nicht länger als ein paar Sekunden betrachten kann. Als hätte sich die caravaggeske Grausamkeit der Form verselbständigt zeigen sowohl Luca Giordano als auch Jusepe de Ribera die Häutung des Marsyas auf solch furchtbare Art, dass man die Augen verschließen möchte. Was wohl Lessing zu solchen Bildern gesagt hätte? Verfocht er doch stets die Theorie, hässliche Gräuel dürften dem Menschen nicht dauerhaft vor Augen gestellt werden. Wie gut, dass nicht weit entfernt bereits eine der schnellsten Läuferinnen der Mythologie angekommen ist. Guido Renis Atalante, die der listig verliebte Hippomenes mit von der Venus geschenkten goldenen Orangen zu verführen vermag, haben wir bereits in etlichen Ausstellungen bewundern dürfen. Vermutlich liegt das an der ihr eigenen Schnelligkeit, dass sie so rasch von Ort zu Ort eilen kann.
Unsere Schritte hingegen werden langsamer. Wie schlendern durch all die großartigen Räume, die sich glücklicherweise zu leeren beginnen, sobald man den Umkreis der Mona Lisa verlässt. Wir bewundern die Selbstbewusstheit der französischen Maler des 19. Jahrhunderts und ihren Sinn für historische Momente. Wir sehen Napoleon dabei zu, wie er sich selbst die Krone aufs Haupt setzt, während die anmutige Madame de Récamier gegenüber sich fast etwas lasziv auf dem nach ihr benannten Möbelstück räkelt. Wir erschauern vor dem Blick der Überlebenden, die sich auf dem Floß der Medusa drängen und erschrecken vor der Kaltblütigkeit des Sardanapal, der die Vernichtung all seines Besitzes – die Frauen inbegriffen – befiehlt, damit dieser nicht in Feindeshand gelangt. Wir staunen über die Zartheit mit welcher der verliebte Amor seine Psyche küsst, als könne er sein Glück kaum fassen und steigen schließlich diese so unglaublich majestätische Treppe hinab. Stets bilde ich mir ein, es seien nicht die Geräusche der Besucherscharen, sondern das Rauschen der Flügel der gewaltigen Nike von Samotrake, die ich höre.
Paris wartet aber nicht nur im Louvre mit künstlerischen Superlativen auf. Die Fondation Louis Vuitton widmet einem der absoluten Großmeister der amerikanischen Abstraktion eine gigantische Ausstellung. Auch wenn das 100 Millionen Euro teure und 2014 eröffnete Glasschiff – vaisseau de verre – von Frank Gehry mit seinen 11 000 Quadratmetern Ausstellungsfläche nicht das besucherfreundlichste Museum ist, so lohnt der Eintritt doch diesmal besonders. Rund 115 Werke sind aus aller Welt angereist, um das faszinierende Werkschaffen des Künstlers Mark Rothko möglichst lückenlos zu dokumentieren. “I became a painter because I wanted to raise painting to the level of poignancy of music and poetry.” Auf beeindruckende, fast überfordernde Weise beweist die Schau, dass es Rothko gelungen ist, der Malerei jene von ihm geforderte Eindringlichkeit zu verleihen. Auf insgesamt 12 Räume sind die nahezu immer großformatigen Gemälde verteilt. Genau wurden die Angaben des Malers, der eher dunkle Lichtverhältnisse sowie einen idealen Betrachterabstand von 45 cm empfahl, befolgt. Rothko, den die meisten als farbgewaltigen Melancholiker kennen, begann seine Karriere klassisch figurativ mit motivischen Anleihen an den Surrealismus und antike mythologische Erzählungen. Ein ganzer Raum widmet sich jenen weniger bekannten Anfängen des Künstlers, die doch 20 Jahre seiner Schaffenszeit einnahmen. In den folgenden Ausstellungssälen schleichen sich behutsam aber stringent jene Gestalten immer mehr aus seinen Bildern fort. Konturen lösen sich auf, Gesichter, ganze Menschen verschwinden, die Umgebung verschmilzt mit der Figur, bis irgendwann nur mehr jene eindrückliche Farbe bleibt, für die dieser Künstler so berühmt ist. Es ist eine Farbe, die alles in sich trägt: Volumen, Nuancen, Unschärfe, Klarheit, Weichheit und Härte gleichermaßen, Wahrhaftigkeit und Tiefe. Je länger die Verweildauer vor den Gemälden, desto stärker wird das Gefühl man könne in jene Farbfelder eintauchen und vollkommen darin versinken.
Die Geduld und aufrichtige Ernsthaftigkeit mit der Rothko sich seit seinem Italienbesuch der Farbe als Materie zuwandte, ist in jedem einzelnen Werk spürbar. Er entwickelte völlig eigene auf uralten Rezepturen basierende Mischungen aus Ei, Harzen und Öl mit denen er so lange experimentierte bis das Ergebnis ihm zusagte, oder wie er sich ausdrückte: das Bild geheimnisvoll war. Geheimnisvoll war auch sein ganzes Wesen. Nicht nur seine Farbmischungen hielt er streng unter Verschluss, auch über die fertigen Bilder wollt er nicht viel Preis geben. Ab einem gewissen Punkt weigerte er sich sogar komplett, seine Gemälde zu kommentieren. Wir tun es ihm gleich und staunen still.
Zu einem weiteren Vertreter der Avantgarde wenden wir an diesem Tag noch unsere Schritte. Sein Meisterstück liegt etwas versteckt im schönen 16. Arrondissement. Hier hat Le Courbusier vor genau 100 Jahren die Häuser La Roche und Jeanneret errichtet. Sie wurden als einheitliches Architekturensemble entworfen, doch haben die Haushälften unterschiedliche Aufgaben: Das Haus La Roche wurde für einen reichen, ledigen Kunstsammler geplant, während das Haus Jeanneret den Bedürfnissen eines Ehepaares mit drei Kindern entsprach. Nur ersteres ist öffentlich zu besichtigen. Raoul La Roche stammte ursprünglich aus Basel und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Paris gezogen. Ab 1921 erwarb er Werke von Picasso, Braque, Fernand Léger, Juan Gris und Jacques Lipchitz, weshalb er seinen Freund mit der Errichtung eines Hauses beauftragte, das sowohl Wohnsitz, als auch Präsentationsort seiner Gemäldesammlung sein sollte. Le Corbusier löste die Aufgabe mit Bravour, indem er ein Raumerlebnis schuf, das er selbst als „architektonische Promenade“ bezeichnete. Offene Galerien, unerwartete Ein- und Durchblicke, radikale Längsachsen zur Hängung der Bilder, eine Rampe, die den Salon dominiert und die Besichtigung der Gemälde aus unterschiedlicher Höhe erlaubt, die matt zurückhaltende farbige Gestaltung der Möbel und Wände; Le Corbusier hat in dieser Villa frühzeitig die grundlegenden Merkmale moderner Architektur umgesetzt, die er drei Jahre später in einer Schrift formulieren wird: reine geometrische Formen, Stützen, Dachterrasse, Langfenster und keinerlei Ornament.
Wie modern Le Corbusier zu seiner Zeit war, wird bei unserer letzten Station besonders deutlich, handelt es sich doch um ein Gebäude, das nur wenige Jahrzehnte zuvor exakt dem gleichen Zweck diente wie die Villa La Roche. 1882 hatte Jules Marmottan ein ehemaliges kleines Jagdschloss am Rande des Bois de Boulogne erworben. Sein Sohn Paul ließ es zu einem vornehmen Stadthaus umbauen, das jedoch gleichzeitig auch der Präsentation seiner umfangreichen Kunstsammlung diente. Noch völlig dem rückwärtsgewandten eklektizistischen Zeitgeschmack der Oberschicht entsprechend, ist es ein einnehmendes Beispiel des überbordenden Fin de Siècle-Wohnstils. Nach seinem Tod hinterließ Paul Marmottan seinen gesamten Besitz der Académie des beaux-arts, die 1934 das Haus als Museum eröffnete. Durch spätere Schenkungen erlangte es seinen heutigen Ruf eines exquisiten Impressionismusmuseums mit dem größten Bestand an Monet Gemälden weltweit. Der eigens dafür errichtete unterirdische Trakt beeindruckt mit einer schimmernden Farbkaskade, die zwischen allen nur denkbaren Grün und Violettnuancen wogt. Selbst Monetskeptiker werden hier sanftmütig ergriffen von jenen Bildern, die nichts für ihre tausendfache Vervielfältigung können und in ihrer einzigartigen Originalität unbedingt anrühren. Erheitert stellen wir fest, dass Berthe Morisot, die grande dame im Kreise der Impressionisten, mit einer Einzelausstellung gewürdigt wird, die wir bereits im Sommer in London gesehen haben.
Die talentierten Frauen in der so männlich geprägten Kunstgeschichte werden also endlich entdeckt und wahrgenommen. Nicht vergessen sollte man jedoch bei all dem Feiern ihres Talents, dass sie es weitaus schwieriger hatten jenes entfalten zu dürfen. Ein Gemälde in einem der kleineren Salons des Musée Marmottan Monet legt davon beredtes Zeugnis ab: Die Damenmalklasse hat sich um den gönnerhaft erklärenden Lehrer versammelt. An den Wänden aufgereiht finden sich für das Studium vorbildhafte Gemälde und etliche Gipsbüsten. Der einzige männliche Torso im Regal jedoch steht für die Blicke der Damen verborgen umgedreht zur Wand. Zuviel männliche Anatomie wollte man den angehenden jungen Künstlerinnen anscheinend dann doch nicht zumuten. Sie hätten ja etwas lernen können.
https://www.fondationlouisvuitton.fr
https://www.fondationlecorbusier.fr/visite/maison-la-roche-paris/