Gedanken zu einer Pfingstreise nach Antwerpen
ModeMuseum, DIVA, Snijders&Rockoxhuis, Museum Mayer van den Bergh, Groeningemuseum, Liebfrauenkirche Brügge
Man Ray, Pieter Bruegel d.Ä., Jan van Eyck, Michelangelo
Antwerpen sei keine Stadt für Touristen, sondern eine Stadt für Reisende. Mit diesen Worten begrüßt uns der Hotelmitarbeiter. In den nächsten Tagen werden wir vollends zu der Überzeugung kommen ihm zuzustimmen. Das Wetter zeigt sich sonnenfreundlich in der Scheldestadt, auch wenn es bisweilen noch empfindlich kühl ist. In den Morgenstunden schlendern wir über den großen Marktplatz, der von der goldenen Zeit Antwerpens Zeugnis ablegt. Wir spazieren zum ModeMuseum, das neben der Dauerausstellung den Künstler Man Ray und seine vielschichtigen Beziehungen zur Modewelt in einer beeindruckend umfangreichen Schau in den Fokus rückt. Das zu Recht so berühmte Foto der berückend schönen, mit perfekt gelegtem Blondhaar in Draufsicht fotografierten Lee Miller lockt als Ausstellungsplakat die Besucher in die abgedunkelten Räumlichkeiten.
Haderte der in den USA 1890 unter dem Namen Emmanuel Radnitzky geborene Surrealist zu Beginn mit seinem Erfolg als Modefotograf – er wollte sich als Maler verstanden wissen – so verschaffte ihm seine zweite Passion doch auch ungeahnte Möglichkeiten, die er bald zu nutzen verstand. Durch die Sitte jener Zeit noch keine Mannequins, sondern Damen der besseren Gesellschaft in den opulenten Roben abzulichten, kam Man Ray rasch in Kontakt mit der beau monde, der schönen Welt der Reichen und Besonderen. Schnell wurde es en vogue unter den Modedesignern, nicht nur die eigenen Entwürfe, sondern auch sich selbst, die Erschaffer jener Träume aus Seide und Chiffon, vom Meister im Bild festhalten zu lassen. Die Fotos von Gabrielle Chanel sind heute Ikonen der Porträtfotografie und haben das Image der Modeschöpferin geprägt wie keine anderen.
Da die bedeutenden Modemagazine zu jener Zeit sehr häufig noch mit Illustrationen arbeiteten, konnte Man Ray als Pionier auf dem Gebiet der Modefotografie aus dem vollen schöpfen. Betonte er zwar stets, ihn interessierten die Frauen mehr, die in den Kleidern steckten als die Entwürfe, so konnte er doch früh für seine individuelle Art der fotografischen Sichtweise Erfolge verbuchen. Jene wiederum sorgten dafür, dass er mutig und extravagant experimentierte und seine Bilder eher eigenständige Kunstwerke als Darstellungen von Kleidern waren. Wie wegweisend und inspirierend bis in die Gegenwart Man Rays Blick auf die Mode war, zeigt die Ausstellung in erhellenden Gegenüberstellungen. So wird deutlich, dass dieser Visionär Mode nicht nur ablichtete, sondern selbst mit seiner künstlerischen Arbeit zur Inspiration wurde, die bis heute nachhallt.
Passend zur Mode erkunden wir danach das erst kürzlich eröffnete Diamantenmuseum namens DIVA, wo wir lernen, dass nicht alle Schätze aus Gold und Silber sind. Ein Eintauchen in die Geschichte der kleinen glitzernden Kostbarkeiten darf in der Diamantenmetropole Antwerpen natürlich nicht fehlen. Für meinen Geschmack etwas überambitioniert gestaltet sich das kuratorische Konzept, welches augenscheinlich von einem ausgeprägten Spieltrieb seiner Besucher ausgeht. Einem Tresorraum gleicht das Obergeschoss. Schubladen, die wie Bankschließfächer gestaltet sind, müssen erst aufgezogen werden, um an die dann doch eher durchschnittlichen Informationen rund um den glitzernden Stein zu gelangen. Da halten wir uns lieber an den aus Fürth stammenden, mittlerweile 100-jährigen Jubilar Henry Kissinger, der so treffend formuliert hat: „Ein Diamant ist ein Brocken Steinkohle, der sich unter Druck gut entwickelt hat.“
Mode und Juwelen sind zwar nicht der primäre Grund, warum wir am folgenden Tag das Snijders & Rockoxhuis aufsuchen, aber auch dort macht uns die Porträtkunst vergangener Tage staunen, in welch faszinierender Weise der Mensch sich zu den unterschiedlichen Zeiten gewandete und schmückte. Ins vornehme Haus des wohlhabenden Bürgermeisters für äußere Angelegenheiten von Antwerpen und Rubensfreundes Nicolaas Rockox darf nun nicht mehr nur eine ausgewählte Elite eintreten, sondern jeder, der sich von Kunst und gehobener Alltagskultur des 17. Jahrhunderts begeistern lässt. Funklende Glanzlichter wie eine zarte Rubensmadonna mit schlummerndem Jesuskind, farbgewaltige Stillleben des früheren Nachbarn Rockox‘ Frans Snyders – dessen Haus nun ebenfalls in das Museum eingegliedert wurde – oder ein in meergrünem Kolorit schreitender Hl. Christophorus von Joachim Patinier zeugen vor goldgeprägten Ledertapeten vom Kunstgeschmack und Reichtum des ehemaligen Hausherrn. Ob die gegenwärtige Sitte, nur noch anhand von Audioguides die Besucher zu informieren, die richtige ist, sei dahingestellt. Wir verzichten wie immer darauf akustisch beschwert und dadurch abgelenkt durch die Räume zu ziehen. Ohne Stimme im Ohr wird der Blick wacher und aufmerksamer mit dem Effekt, dass man nicht nur das sieht, was man gesagt bekommt. Bezaubernd ist der kleine begrünte Innenhof, der einen Hauch von Italien nach Norden trägt und die damaligen Bewohner und heutigen Besucher für die Dauer ihres Aufenthaltes aus dem lärmenden Stadtalltag entführt.
Wir verlassen des Bürgermeisters Haus nur um in einem weiteren Museum das Sammlungsgeschick und den Geschmack des Begründers zu bestaunen. Fritz Mayer van den Bergh hat das im neogotischen Stil eingerichtete Haus explizit für seine Exponate bauen lassen. Sehr fühlen wir uns an unseren Besuch des Musée Jacquemart André in Paris erinnert. (Siehe der Blogbeitrag: Gedanken zu einer Reise im Februar nach Paris) Auch dort hatte das äußerst wohlhabende Bankiersehepaar sich für ganz spezielle Kunst- und Kulturepochen begeistert und jenen im spektakulären Neubau am Ende des 19. Jahrhunderts den perfekten Rahmen geschaffen. Waren es in Frankreich italienische Frührenaissance und französisches Rokoko zeugt das Haus hier in Antwerpen von der Liebe zur regionalen Vergangenheit. So war Fritz Mayer van den Bergh neben seiner Passion als Skulpturensammler auch ein Entdecker der Kunst Pieter Bruegels d.Ä., die zu jener Zeit nahezu vergessen war. Dessen „Duller Griet“ wird sogar ein eigener kleiner Raum eingerichtet. Eine kluge Entscheidung: ist die tolle Grete ob des nahenden höllischen Weltuntergangs offensichtlich dermaßen in Harnisch geraten, dass selbst der heutige Besucher nicht ganz sicher gehen kann, ob dieses rasende Wesen nicht vielleicht doch in der Lage wäre, aus dem Bildraum hinauszustürmen. In den anderen Räumen geht es wesentlich gesitteter zu. Von rührender Sanftmut blicken uns die kleinen porträtierten Mädchen in ihren gewaltigen Kleidern entgegen. Beschwerlich erscheint uns Heutigen das Kindsein in einer Zeit, die diese Phase der menschlichen Biografie noch als keine eigenständige und dementsprechend wichtige begriff. Erkennbar wird dies an einer Kindermode, die lediglich im Maß veränderte Erwachsenenkleidung war, aber keinerlei Rücksicht auf die kleineren und sicherlich munteren Träger nahm.
Freien, da von schweren Stoffmassen ungehinderten Schrittes gehen wir dem nächsten Tag entgegen, der uns nach Brügge führt. Vermutlich gibt es geeignetere Zeiten im Jahr als einen sonnigen Pfingstsonntag, um dorthin zu fahren. Die schmalen malerischen Gassen und Winkel sind so überfüllt, dass es kaum ein Vorwärtskommen gibt. Welch ein Unterschied zu meinem ersten Besuch vor exakt 21 Jahren, als mich eine Exkursion während des Studiums in die damals noch verträumte Stadt führte. So verändert die Atmosphäre, so erhaben zeitlos zeigt sich die Kunst im Groeningemuseum. Jan van Eycks distanziert blickende Gattin Margarete gehörte damals zu meinen Referatsthemen. Wie anders sehe ich sie heute an und bewundere van Eycks Selbstbewusstsein, seine Frau im Bilde festzuhalten und so der Vergessenheit zu entreißen. Außergewöhnlich ist auch die originale Rahmeninschrift, die den Betrachter direkt anspricht: „Mein Mann Johannes vollendete mich im Jahr 1439 am 17. Juni, mein Alter war 33 Jahre.“ Es ist ein einzigartiger Akt der Wertschätzung seitens des Künstlers, da die Porträtkunst in jener Zeit nahezu ausschließlich hochstehenden Persönlichkeiten vorbehalten war.
Ihr gegenüber hängt die nahezu verstörend realistisch gemalte „Madonna des Kanonikus Joris van der Paele,“ die ebenfalls von Jan van Eyck geschaffen wurde. Im Zentrum thront eine typisch der nordischen Sphäre entsprungene Maria in einem üppig eingerichteten Kircheninnenraum. Unter ihrem mit Szenen aus dem Alten Testament geschmückten prachtvollen Thron liegt ein dicker ornamentierter Teppich, der als Bindeglied in die Sphäre des Betrachters fungiert. Liebevoll hält die schöne Gottesmutter den nackten Jesusknaben auf ihrem Schoß. Er übergibt mit seiner linken Hand gedankenverloren ein Sträußchen aus roten, blauen und weißen Blumen seiner Mutter. Farben, die sich in der Gewandung der Madonna wiederholen. Mit der Rechten liebkost der Knabe einen grünen Papagei. Beider Aufmerksamkeit richtet sich jedoch auf den betagten Stifter des Gemäldes, der links von ihnen kniet. Joris van der Paele war ein angesehener und einflussreicher Mann. In jungen Jahren ging er nach Rom, wo er päpstlicher Schreiber war, bevor er in seine Heimatstadt zurückkehrte und zum Kanonikus der Stiftskirche Sankt Donatian ernannt wurde. Nicht satt sehen kann ich mich an dieser Gestalt, die ein kostbares Stundenbuch in Händen hält, aus dem gerade noch gelesen wurde. Die Brille hat der Gläubige nun abgenommen, um der Madonna zu huldigen. Die tief eingegrabenen Furchen im Antlitz des alten Mannes zeugen von den langen Stunden frommer Lektüre. Der Gottesmutter empfohlen wird der Kanonikus vom Hl. Georg, der in prächtiger Rüstung am rechten Bildrand steht und ehrfürchtig seinen Helm anhebt. Abgeschlossen wird diese sacra conversazione auf der linken Seite durch den Hl. Donatian. In der ihm geweihten Kirche hing das Bild ursprünglich auch, um an die täglich zu lesenden Messen zum Seelenheil des Stifters zu erinnern.
Überbordend ist sowohl die formale als auch die ikonografische Detailfülle mit der Jan van Eyck das heilige Geschehen vor Augen führt. Atemnehmend gestaltet sich die eingehende Betrachtung von Perspektive, Lichteinfall, Oberflächen und Stofflichkeiten. Untersuchungen haben ergeben, dass der Künstler, um den Lüster der Perlen und Edelsteine, das Schimmern und Glänzen der kostbaren Materialen so täuschend echt nachahmen zu können, seine feinsten Farblasuren mit metallischen Folien unterlegte. Dennoch bleibt es mir ein unfassliches Geheimnis, wie eine menschliche Hand solche Wunderwerke erschaffen kann. Innovativ gestaltet van Eyck den einheitlichen Bildraum in dem das Göttliche und Irdische nahtlos ineinander übergehen. Mühelos elegant verweben sich unterschiedliche Bild,- Zeit,- und Realitätsebenen. Keine Trennung erfolgt zwischen den Heiligen und demjenigen, der um ihre Fürsprache bittet. War die Liebe zum malerischen Detail des Künstlers Versuch, die göttliche Botschaft dadurch als real und unumstößlich zu vermitteln?