Gedanken zu einer Neujahrskurzreise nach Berlin
Neue Nationalgalerie, Schloss Charlottenburg
„Verwechseln Sie bitte nicht das Einfache mit dem Simplen.“ So präzise Mies van der Rohe dieses Zitat formuliert, so klar und deutlich ist auch die Formensprache seiner Neuen Nationalgalerie in Berlin, die nun nach langjähriger, sorgfältiger und aufwändiger Restaurierung wieder besichtigt, besucht und bewundert werden kann. Trotz seiner mittlerweile über 50 Jahre hat das Gebäude nichts von seiner Modernität und schlichten Erhabenheit verloren. Wirken andere Bauten des ausgehenden 20. Jahrhunderts in ihrer bemühten Modernität häufig veraltet, strahlt die Nationalgalerie in ihrer lässigen Monumentalität absolute Zeitlosigkeit aus.
50 mal 50 Meter wändeloser Ausstellungsraum, der lediglich durch gigantisch dimensionierte Glasfronten zur Stadt hin abgetrennt wird, ruht, von einigen zurückhaltenden Stahlträgern gehalten und von einem vorkragenden Dach bedeckt, majestätisch auf einem Steinsockel. Es handelt sich dabei um ein in die Gegenwart übersetztes Prinzip, das bereits Leon Battista Alberti im 15. Jahrhundert in Anlehnung an die Antike für herausragend wichtige Gebäude empfohlen hatte. Und so erschließt sich beim Eintreten den heutigen Besuchern ein, aus dem Alltag gehobener, zeitgemäßer Tempel für die Kunst des 20. Jahrhunderts.
Empfangen wird man derzeit von einer speziell für diese Räumlichkeiten konzipierten Ausstellung wie sie passender nicht sein könnte. Kongenial sind die schwerelosen Kunstobjekte Alexander Calders von winzig-zart bis schwerelos-erhaben luftig im Erdgeschoss verteilt. Ein Erkennungszeichen der kinetischen Kunst ist ihre Beweglichkeit und ihr Reagieren auf das rezeptive Gegenüber. Der Betrachter beeinflusst durch sein Dasein die Optik des Kunstwerks. Eindrücklicher könnte eine Einladung zu einer der wichtigsten Kunstsammlungen des 20. Jahrhunderts nicht ausfallen.
Zur Dauerausstellung geht es einige Stufen hinab. An der Stirnseite der großzügigen Vorhalle begrüßt den Besucher mit völliger Selbstverständlichkeit Lotte Lasersteins „Abend über Potsdam“ aus dem Jahre 1930. Visionär hinsichtlich der kommenden schrecklichen Zeiten, vor denen auch die Künstlerin ins Exil fliehen musste, wirkt die angespannte Melancholie der Protagonisten des Bildes, die sich auf einer Terrasse über den Dächern Potsdams versammelt haben.
Im ersten Raum bebt der Expressionismus. Vielschichtig und heterogen, gattungsübergreifend und sinnlich auf mehreren Ebenen erfahrbar, zeigt sich die Unruhe einer Epoche, deren Kennzeichen der Verlust der Ganzheit ist. Kristallin zersplittern die Farbfetzen in Kirchners Bildern. Exemplarisch für jene Zeit erscheint uns Heutigen seine berühmte „Straßenszene“ mit den beiden so verloren wirkenden Frauen, die dennoch um Aufmerksamkeit heischen. Vereinzelt in ihrer Einsamkeit sind sie doch Teil dieser so hektisch gewordenen Großstadt, die um sie herumwirbelt.
An den Wänden werden die Exponate klug präsentiert und von ausnehmend intelligenten, knapp verfassten Texttafeln begleitet. Der große Binnenraum bietet Platz für die zu skulpturalen Inseln zusammengefassten Vitrinen und Podeste, wo die dreidimensionalen Kunstwerke sich zu voller Wirkmacht entfalten dürfen, da sie entsprechend ihrem Gattungswesen umschritten werden können.
Davon, dass auch das beginnende 20. Jahrhundert trotz all der fiebrigen Unruhe und Vorausahnung auf die nächste Katastrophe das Gefühl für Schönheit nicht verloren hat, legt der rumänische Künstler Constantin Brâncuşi Zeugnis ab. Von berückend zart-eleganter Weichheit schmiegt sich sein nahezu gänzlich in die Abstraktion geglittener „Vogel im Raum“ in diesen ein. Weniger die objekthafte Physis eines Tieres als dessen essentielle Fähigkeit zum Fluge und die daraus resultierende Wechselwirkung mit seiner Umgebung wurden hier mit feiner Präzision thematisiert.
Ein paar Räume weiter zeigt sich mehr als deutlich, dass die Traumata des 1. Weltkriegs auch in den Künstlerseelen noch lange nachwirkten. Hier zersetzt das Grauen der Schlachtfelder Flanderns die Gewissheit an das Gute im Menschen. Otto Dix‘ erst 1934 begonnenes Gemälde, das das Elend der Schützengräben in Belgien offenbart, kommt völlig ohne Waffen aus. Im schlammig-blutigen Kolorit zeigt es anhand regloser Leiber die gespenstische Stille zwischen zwei Angriffen. Der Künstler verdeutlicht durch in ihrer Erbarmungslosigkeit kaum erträgliche Bilder, wozu die Krone der Schöpfung fähig ist. Radikal wurde hier die traditionelle Schlachtenikonografie ad absurdum geführt. Aus solchem Gemetzel geht keine der Parteien als Sieger hervor. Was Dix in der Rückschau hier malt, liest sich für uns Nachgeborene hingegen wie eine apokalyptische Vorausschau auf die bald bevorstehende nächste menschengemachte Kriegskatastrophe.
Immer wieder gestehen die Kuratoren jedoch in den dicht und ansprechend, dabei aber niemals überfordernd großzügigen Räumlichkeiten den Besuchern optische Atempausen zu: sei es durch den so unvermutet zart anmutenden Reigen eines Edvard Munch für die Kammerspiele, das ikonische Porträt der kühl intellektuellen „Sonja“ von Christian Schad oder den so anrührend naiv gehaltenen Landschaften einer Marianne von Werefkin. Vermutlich gibt es zur Zeit keinen Ort, an dem sich die verwirrend faszinierende Vielfalt der sogenannten klassischen Moderne besser erleben lässt als die Neue Nationalgalerie in Berlin.
Der primäre Grund unserer Berlinreise könnte konträrer zu dem eben Gesehenen aber nicht sein. Das Charlottenburger Schloss widmet zum 300. Todesjahr dem Erschaffer eines der bezauberndsten Bilder der Kunstgeschichte eine eigene Schau. Antoine Watteaus „Ladenschild für den Kunsthändler Gersaint“ ist Mittelpunkt einer Ausstellung rund um das Thema „Kunst-Markt-Gewerbe“. 1746 erwarb Friedrich der Große, ein begeisterter Anhänger Watteaus, dieses Spätwerk des französischen Rokokokünstlers. Eine wechselvolle Geschichte hatte das Bild da bereits durchlebt. Zerschnitten und später ergänzt, war es ursprünglich vom Maler als Dankeschön für seinen Freund Edme-François Gersaint gemalt worden, der einen der luxuriösen Läden auf der Notre-Dame-Brücke betrieb und Watteau nach dessen Rückkehr von London einige Wochen Logis bot. Mit feinsinniger Ironie behandelt der Künstler, der selbst durch geschickte Vermarktung Höchstpreise für seine Gemälde verlangen konnte, das Thema des Bilderverkaufs. Lediglich „um sich die Finger zu lockern“ übernahm Watteau diese Aufgabe zu einem Zeitpunkt, als er auf dem Zenit seiner Karriere stand. Glücklicherweise nur einige Tage hing diese Kostbarkeit dann, Wind und Wetter ausgesetzt, tatsächlich über dem Ladeneingang, bevor man sie in schützende Innenräume verbrachte.
Nur wenige Werke sind so exemplarisch für den Geist ihrer Entstehungszeit wie dieses. Die Epoche Ludwigs XIV., der seine adelige Umwelt in ein zeremonielles Korsett aus Regeln und Überwachung gezwängt hatte, ist mit seinem Tode 1715 vorüber. Nun wird auch das Porträt des Sonnenkönigs diskret in eine hölzerne Kiste verpackt. Aber auch die anderen Bilder verfehlen ihren Eindruck nicht. Die zauberhafte Dame im rosa Kleid ist dementsprechend fasziniert. Als Rückenfigur übernimmt sie die Perspektive des Betrachters, der ebenfalls dem verlockenden Kunstangebot erliegen wird, vor allem, wenn Watteau der Überredungskünstler ist. Just der Moment ihres Eintretens in die Sphäre der Kunst ist dargestellt. Weg aus der schnöden Realität, erkennbar an Straßenhund und Strohbüschel, setzt sie ihren zierlichen Fuß hinein in die sinnlich verführerische Welt der Bilderkunst. Der drängenden Überredung ihres Begleiters bedarf es gar nicht mehr. Obwohl man sie doch nur von hinten sieht, avancierte diese Dame zur Berühmtheit. Niemand sonst beherrschte die Meisterschaft der eleganten Damenrückansichten so brillant wie Watteau. Sein Können hat sich sogar auf die Kostümgeschichte ausgewirkt. Die für diese Zeit charakteristische Schleppe der contouche, wie die robe française auch genannt wurde, trägt bis heute die Bezeichnung Watteau-Falte.
Insgesamt bevölkern 12 Figuren die elegante Szenerie, die von links nach rechts als sich steigernde Überredung zur Kunstverführung zu lesen ist. In dichter Hängung werden die Gemälde in üppiger Goldrahmung im zur Straße hin offenen Ladengeschäft den unterschiedlichen Interessenten präsentiert. Nicht mehr auf der Schwelle stehend, sondern bereits in tiefe Betrachtung ist ein weiteres Paar versunken. Der Herr ist sogar auf die Knie gegangen, um alle Details der mit vielen kleinen nackten Nymphen bevölkerten Szenerie genau studieren zu können. Seine Begleiterin, an der Tracht als Witwe erkennbar, hat dem Betrachter ebenfalls den Rücken zugewandt. Vielleicht erinnert sie das Gemälde an frühere, längst vergangene Zeiten.
Auf der rechten Seite sind die Verkaufsverhandlungen hingegen schon weiter fortgeschritten. Ein zwar diesseits und jenseits des Tresens platziertes Paar, dessen Einvernehmen aber an der zueinander gewandten Kopfhaltung unschwer zu erkennen ist, blickt angetan auf ein kleines Gemälde. Mit Wohlgefallen hat sich die Dame zufrieden in ihrem Sitzmöbel zurückgelehnt. Sie trägt ein Kleid, dessen schimmerndes Knistern zu einer der schönsten Roben gehört, die jemals von Künstlerhand gestaltet wurden. Ein zweiter Mann steht bei dieser Gruppe. Sein Interesse scheint dabei weniger dem kleinen Kunstwerk als der Verkäuferin, die es präsentiert, zu gelten. Behaglich hat er seine beiden Unterarme in die Ärmel der Jacke geschoben, sodass nur mehr die für das Rokoko so typischen Spitzenmanschetten hervorschauen. Eine ungewöhnliche, formlose Geste und ein Hinweis, dass zur Bewunderung zum jetzigen Zeitpunkt doch nur die Augen genügen müssen.
Fast ist die Schwelle überschritten, annähernd ist der Erwerb des Bildes vollbracht, beinah ist der Bewunderer der Verkäuferin an seinem Ziel. Dieser spannungsreiche Moment des noch nicht findet sich auch auf einem anderen, vermutlich noch berühmteren Gemälde Watteaus, das sich ebenfalls im Charlottenburger Schloss befindet: Auch in der „Einschiffung nach Kythera“ wird eine galante Überredung, die sich bereits im fast siegreichen Endstadium befindet, erzählt. Hier werden die Damen zur Liebe überredet, dort zur Kunst. Was bei Watteau letztendlich aber ja doch dasselbe ist.