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Gedanken zu einer Reise nach England zweiter Teil – Cornwall

Wells, Buckland Abbey, Cotehele House, The Lost Gardens of Heligan, Lanhydrock House, St. Ives

Die Temperaturanzeige sinkt mit jedem Kilometer, den wir gen Westen fahren, bis der vorläufige Tiefpunkt erreicht ist. 13 Grad (im Juli) sind es als wir bei strömendem Regen einen Zwischenhalt in Wells einlegen. Es müsste jedoch schon ein Vulkan ausbrechen, dass wir uns diesen Ort entgehen ließen. Denn hier steht eines der erstaunlichsten Bauwerke der mittelalterlichen Architektur. Die Kathedrale von Wells ist ein Meisterstück der englischen Frühgotik. Im ausgehendenden 12. Jahrhundert begonnen, ist sie die erste Kirche in Großbritannien, die vollständig mit Spitzbögen ausgestattet ist. Wofür dieses Bauwerk aber vornehmlich berühmt wurde, sind die beeindruckenden Scherenbögen der Vierung. Bereits vor über zwanzig Jahren bestaunte ich auf einer schlichten Schwarzweißfotografie meines Architekturlehrbuches diese fulminante und doch so einfache formale Lösung eines architektonischen Problems. Der reale Anblick nun ist berückend. Um den erst nachträglich um 1338 hinzugefügten Vierungsturm zu stabilisieren, setzte man die sogenannten scissor arches zwischen Lang- und Querhaus ein. Zwei gigantische, einander durchdringende S-Schwünge entstehen aus den umgekehrt übereinandergesetzten Spitzbögen. Eine beabsichtigte Anspielung auf das Kreuz des Apostels Andreas, dem die Kirche geweiht ist, lässt sich nicht ausschließen. Kürzlich erst wurde erforscht, dass die Scherenbögen nicht nötig gewesen wären, um den Turm zu befestigen. Welch ein Glück, dass diese Erkenntnis vor 700 Jahren noch nicht bekannt war und ein englischer Baumeister diese extravagante steinerne Kostbarkeit erschaffen konnte. Häufig ist in der Kunstgeschichte das Phänomen zu beobachten, dass Künstler freier und unbeschwerter mit dem originären Formenschatz umgehen, je weiter sie sich vom Ursprungsort des Epochenbeginns entfernen. Französische Baumeister hatten den neuen Baustil der Gotik von Nordfrankreich nach England gebracht, wo dieser von einheimischen Architekten übernommen und anverwandelt wurde.

 

Als wir aus dem Gebäude treten, ist das für jene Gegend so berühmte Grün hinter den grauen Regenschwaden kaum mehr erkennbar. Der Blick aus dem Autofenster gleicht der Betrachtung eines abstrakten Gemäldes. Vor allem nach dem lärmumtosten London, das wir erst Stunden zuvor verlassen haben, ist die Stille bei unserer Ankunft im Hotel fast unwirklich. Als Jagdsitz einer kinderreichen Familie vor über 200 Jahren errichtet, liegt es in völliger Abgeschiedenheit und verkörpert alles, was man sich vom englischen Landleben erwartet. Kleine Hunde springen über die grünen Wiesen, Unmengen an Blumen strahlen gegen das steinerne Grau des Gebäudes an, die Holzdielen knarzen, Gummistiefel wurden nach Größen sortiert, in der Bibliothek steht eine Récamière mit Teegeschirr, das Fenster bietet einen umwerfenden Blick auf die sanften, von kleinen weißen Schafen gepunkteten Hügel. Wäre des Nachts eine weiße Dame an mir vorübergeschwebt, ich hätte mich gefürchtet, aber nicht gewundert. Jedoch nicht nur das Ambiente erfüllt all meine Vorstellungen. Einer der Hotelmitarbeiter könnte direkt einem englischen Roman entsprungen sein. Er wäre der ideale Butler. Jeden Tag trägt er einen exquisit geschneiderten Maßanzug mit Einstecktuch. Sein Benehmen ist von solch ausgesucht unaufgeregter Distinguiertheit, dass man augenblicklich noch etwas gerader sitzt, wenn er das Essen serviert. Seine elegante Höflichkeit den Gästen gegenüber zeugt von einer vermutlich nur hier existierenden perfekten Balance von Distanz und Nahbarkeit, Strenge und Verbindlichkeit.

Schnell lerne ich, dass meine Befürchtung, hier gäbe es außer Landschaft nicht viel zu entdecken, unbegründet ist. Bereits am ersten Tag besuchen wir Buckland Abbey, das ehemalige Wohnhaus von Sir Francis Drake. Die bereits im Mittelalter errichtete Abtei war von Heinrich VIII. säkularisiert, an Sir Richard Grenville verkauft und zu einem Herrenhaus umgebaut worden, bevor Drake sie 1581 erwarb. Seine Nachfahren lebten über 400 Jahren auf dem Anwesen, das heute zum National Trust gehört. Mit rührender Freundlichkeit werden wir begrüßt und über die Reihenfolge belehrt, in der wir die Räume besichtigen sollen. Auch heute bekommt man einen lebendigen Eindruck vom Alltag in solch mächtigen Mauern. Mit Unbehagen und Befremden lese ich die doch immer noch vom begeisterten Siegesstolz zeugenden Wandtafeln eines grausamen Eroberers, der in königlichem Auftrag mordete, brandschatze und gierig ein unglaubliches Vermögen anhäufte. Lakonisch heißt es hier: „Sir Francis Drake, Held, Kapitän, Sklavenhändler und Freibeuter, wurde von Königin Elisabeth I. sehr geschätzt und war nach der Rückkehr seiner Weltumsegelung zum Ritter geschlagen worden.“ Schwer fällt es mir, den damaligen Zeitgeist als mildernden Umstand gelten zu lassen, wie es in unserer Gegenwart doch so oft und gerne geschieht. Nach heutigen Maßstäben wäre Drake ein menschenverachtender Kriegsverbrecher.

 

Mit dem Gefühl der Dankbarkeit für die „späte Geburt“ verlassen wir die stattlichen grauen Gebäude. Der nächste Tag bringt uns ins Tamartal, wo das um 1485 im Tudorstil erbaute Cotehele House besichtigt werden kann. Nahezu 600 Jahre war dieser Grund und Boden im Besitz der Familie Edgcumbe, bevor er ebenfalls dem National Trust übergeben wurde. Bis heute besitzt das Haus keine Elektrizität, um die Inneneinrichtung zu schützen. Eine Besonderheit sind die kostbaren Teppiche aus Italien und Flandern, die nach heutigem Verständnis bisweilen aber etwas robust den räumlichen Gegebenheiten angepasst wurden, in dem man sie großzügig zurechtschnitt. Auch hier erhalten wir einen nahen Einblick in das Leben der Generationen Edgcumbe, die je nach Geschmack, Bedürfnissen und Geldbeutel umfangreiche Umgestaltungen an ihrem Zweitwohnsitz vornahmen. Repräsentativ und von hohen Decken bekrönt sind die offiziellen Räume, kleiner, intimer, wohnlicher die privaten Gemächer, die häufig auch nur durch kleine Stiegen miteinander verbunden werden. Wärme und die Versorgung mit Lebensmitteln spielten eine wichtige Rolle. Eindrücklich lässt sich das an den ausladenden Kaminen und der großen Küche erkennen.

 

Auch wenn ich mich eher als Kunst- denn als Naturliebhaberin bezeichnen würde, komme selbst ich hier nicht umhin, die großen, liebevoll gehegten Gärten zu besuchen und zu bewundern für die diese Gegend so berühmt ist. Ein besonderes Exemplar sind The Lost Gardens of Heligan. In viktorianischer Zeit angelegt, verwilderten sie nach dem 2. Weltkrieg, bevor sie in den letzten Jahrzehnten im Rahmen eines ehrgeizigen didaktisch und ökologisch angelegten Projektes wiederbelebt wurden. Vom Zier- zum Nutzgarten sind es nur ein paar Minuten zu Fuß. Wem heimische Schweinchen, Hühner oder Küchenkräuter jedoch zu unspektakulär sind, der begibt sich am besten in den Dschungel. Ein bereits vor 150 Jahren angelegter Teil des Gartens voll exotischer Pflanzen versetzt den Besucher innerhalb von Sekunden in völlig andere Gefilde der Erdkugel. Ja, der Begriff GartenKultur hat seine Berechtigung.

Ein Tag bleibt uns noch und der führt selbstverständlich ganz dringlich ans Meer. Auf dem Weg dorthin besuchen wir, um die chronologische Linie der Herrenhäuser noch etwas fortzusetzen, ein weiteres Anwesen. Es ist das jüngste unserer Reise. Die Nahbarkeit mit welcher man das Leben jener Zeiten und die früheren Bewohner dieser Häuser erleben kann, erstaunt mich jedes Mal aufs Neue. Vergleichbares ist mir auch aus anderen Ländern nicht bekannt. Ich kenne Alltagskulturgeschichte meist nur durch museal präsentierte Objekte, die durch die De-platzierung ihre ursprüngliche Aura verloren haben und sich hinter Vitrinenglas nicht mehr zu voller Aussagekraft entfalten können. Hier stehen alle Dinge noch an den Orten, für die sie geschaffen waren und wo sie genutzt wurden.

 

Lanhydrock ist ein gewaltiges Anwesen. Zu seiner kurzen Blütezeit zwischen 1881 und 1914 sorgte ein Personalstab von bis zu 100 Mitarbeitern für jede Form von Annehmlichkeiten, die man sich zur damaligen Zeit nur wünschen konnte. Dabei war der Beginn jener goldenen Jahre eigentlich ein tragischer. 1881 brannte ein Großteil des noch im 17. Jahrhundert erbauten Hauses ab. Lord und Lady Robartes blieben zwar äußerlich unverletzt. Die Hausherrin verstarb jedoch eine Woche später vermutlich aufgrund des erlittenen Schocks, ihr Mann, wie man sagt, an gebrochenem Herzen ein knappes Jahr später. Der einzige Sohn ließ nun das Anwesen von Grund auf neu errichten. Das heutige Aussehen des Hauses ist, bis auf den Nordflügel mit der großen Halle, weitgehend der damalige Neubau vom Ende des 19. Jahrhunderts. So spiegelt das seither nahezu unveränderte Anwesen auch den Lebensstil einer adligen Familie jener Zeit und vermittelt den Eindruck, als wären die Robartes und ihre bis auf 10 anwachsende Kinderschar nur kurz für einen Spaziergang nach draußen durch die weitläufigen Parkanlagen gegangen. Ein bisschen fühle ich mich, als würde ich durch eine Folge der berühmten Serie Downton Abbey laufen. Anhand des Ortes wird die Zeit begreiflich. Er ist Ausdruck eines uns völlig fremden Gesellschaftsverständnisses. Selbst wenn betont wird wie sozial die Familie eingestellt war und durch ihre Lebensart auch Arbeitsplätze schuf, kommt doch kein Zweifel auf an den strikt getrennten Lebenswelten der Menschen, die zusammen in diesem Haus wohnten: oben die Privilegierten, unten die Arbeiter.

 

Wie überall in jenen Häusern begegnen wir der hübschen Sitte, dass ältere Menschen in den Räumen bereitstehen, teils sogar verkleidet, um die Fragen der Besucher zu beantworten. Im großflächigen Küchentrakt, der für sämtliche Bereiche des Kochens, Konservierens und Backens eigene Räumlichkeiten und kleine Gebäude vorsieht, backen Seniorinnen mit Häubchen auf dem weißen Haar Kekse und heißen die Besucher willkommen. Fast unhöflich kommen wir uns vor, wenn wir dieses freundliche Informationsangebot nicht nutzen. Und so erfahre ich von der „Gouvernante“ im strikt abgetrennten, weitläufigen Kindertrakt, der als eine eigene, parallele, zauberhaft kindgerecht gestaltete Lebenswelt bestand, dass Mädchen, anders als ihre Brüder, nicht auf Schulen geschickt wurden, da sich weibliche Bildung auf dem Heiratsmarkt eher hinderlich auswirkte. Umgekehrt grenzte es nahezu an eine Katstrophe, wenn eine Tochter nicht heiratete. Für ein „Alltagsleben“ in keiner Weise vorbereitet und ohne nennenswertes Erbe traf sie meist das Los, als Tante in der Familie einer Schwester oder eines Bruders zu leben. Die Kapriolen des Schicksals wollten es, dass bis auf eine Robartes Tochter alle unverheiratet und auch viele Söhne kinderlos blieben, sodass man das Anwesen 1953 dem National Trust übergab. Wir streifen durch die Räume, erfahren, dass das Haus jeden Tag drei Stunden erst geputzt und fein gemacht wird, bevor die Besucher eintreten dürfen. Ein bisschen beginne ich zu träumen, als ich die Damenzimmer mit all ihrer wohnlichen Eleganz und ihrem Nippes durchschreite. Kurz ertappe ich mich bei dem Gedanken, ob es nicht vielleicht doch ganz angenehm gewesen war in solch einem Schloss zu wohnen, umgeben von einer Heerschar Bediensteter, die Kinder nachmittags nur eine Stunde zu treffen, Briefkorrespondenzen zu führen, die Nachbarin zum Nachmittagstee zu bitten, Ballkleider aus Paris anzuprobieren, nach London ins Ritz zum Lunch zu fahren und an gewöhnlichen Mittwochen eben den Speisezettel mit der Köchin zu besprechen. Unsanft werde ich aus meinen Träumen gerissen. Nicht einmal mit der Lady hätte sie tauschen wollen, sagt unvermittelt eine Mitarbeiterin des Hauses auf deutsch, hätte doch auch sie, trotz all ihres Geldes, noch vor der Erfindung der modernen Zahnmedizin gelebt. Das Argument leuchtet mir ein. Ein weiteres, besser gesagt mehrere, kommen mir in den Sinn, als ich durch die endlos vielen Räume gehe. Das Leben jener Zeit, vor allem der Frauen, war mehr oder minder vorbestimmt, egal auf welcher Etage man zur Welt kam. Freiheit, Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, selbständig getroffene Lebensentscheidungen, Neugier, Bildungshunger, all das war nicht vorgesehen. Die einen hatten schlichtweg keine Zeit und kein Geld dafür, den anderen war es aufgrund der gesellschaftlichen Vorgaben nicht gestattet. Ihr Korsett umschloss nicht nur die schmalen Taillen. Auch wenn ich sehr gerne ein solches Fest im Ritz im rauschenden Ballkleid einmal miterlebt hätte (die ausgelegten Zeitungen berichten im Ankleidezimmer ausführlich darüber), so bin ich doch ungemein erleichtert im Hier und Jetzt zu leben. Allein schon aus dem Grund an diesem Tag nun endlich auch das Meer sehen zu dürfen. Das berühmte St. Ives ist der letzte Ort unserer Reise. Die so viel gepriesene Dependance der Tate Modern entpuppt sich als einzige Enttäuschung. Lediglich einige Perspektiven der nun auch schon wieder 30 Jahre alten postmodernen Architektur eröffnen spannende Blicke aufs Wasser. Die Kunst an den Wänden hingegen lässt uns erstaunlich kalt. Vermutlich ist die Meeresküste auch nicht der beste Ort für ein Museum. Hat doch die Kunst hier ihre allergrößte Konkurrentin direkt vor sich: die Natur, die größte Künstlerin schlechthin. Wo, wenn nicht in England darf man als Kunsthistorikerin diesen Satz äußern.

https://www.wellscathedral.org.uk

https://www.nationaltrust.org.uk/visit/devon/buckland-abbey

https://www.nationaltrust.org.uk/visit/cornwall/cotehele

https://www.heligan.com

https://www.nationaltrust.org.uk/visit/cornwall/lanhydrock

https://www.tate.org.uk/visit/tate-st-ives

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