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Gedanken zu einer Reise nach England erster Teil – London

Tate Gallery of Modern Art, Wallace Collection, National Portrait Gallery, National Gallery, Dulwich Picture Gallery

Mein Besuch in England beginnt skurril. Der Taxifahrer weigert sich ins Zentrum zu fahren und lässt mich an einer vielbefahrenen Straße einfach aussteigen. Trotz ungenauer, da nicht Festland kompatibler Entfernungsangaben, entschließe ich mich, zu Fuß durch den Regen zu gehen, um in London anzukommen. Es ist mit Städten wie mit Menschen. Es gibt jene, bei denen der Funke einfach nicht überspringt, trotz beidseitiger Bemühungen und wiederholtem Besuch. Es gibt jene, von denen man sich zu Beginn hat blenden lassen und nach und nach bemerkt, dass es eben doch nicht passt. Es gibt die eine große Liebesgeschichte eines coup de foudre, bei der man sich auf den ersten Blick verliebt und in eine lebenslange Lieblingsbeziehung tritt. Es ist diese besondere Stadt, der man alles verzeiht, auch Unannehmlichkeiten, die einen andernorts vielleicht sogar zur Abreise bewegen würden. Und dann gibt es Städte, die beim ersten Mal nicht völlig überzeugen konnten. Bei jedem erneuten Besuch wachsen sie einem jedoch ein bisschen mehr ans Herz. Zur ganz großen Liebe taugen sie vielleicht nicht, aber doch zu einer äußerst interessanten, bereichernden und überaus amüsanten Freundschaft, die man im Laufe der Jahre immer mehr zu schätzen weiß. Welche Stadt könnte hierfür besser geeignet sein als London, das mich dieses Mal so extravagant begrüßt hat. Die ganze Stadt erscheint mir eigenwilliger, fremder ja trotziger als zu Prä-Brexitzeiten. Die Straßen sind überfüllt. Eine Herausforderung stellt wie immer nicht nur der Linksverkehr dar, sondern die Tatsache, dass die gesamte Bewegungsrichtung dieser Stadt grundsätzlich andersherumläuft als gewohnt.

 

Wir beginnen unsere Museumstour in der Tate Modern. Die Eingangssituation schüchtert eher ein, als dass sie willkommen heißt. Nur mit einer gewissen Scheu vermag man der Einladung zu folgen. Die Proportionen sind die eines ehemaligen Kraftwerks, das vom Architekturbüro Herzog & de Meuron für die neue Aufgabe umgestaltet wurde. Viel Unbekanntes, Fremdes und Befremdendes entdecken wir zwischen all den klangvollen Namen der zeitgenössischen und modernen Kunst. Jeder, der seit 1900 sich seinen Rang in der Kunst erarbeitet hat, ist hier vertreten. Von Pollock über Warhol, von Beuys zu Duchamp lassen wir uns treiben. Richter erhält wie so oft einen Einzelraum. Etliche seiner Rakelbilder sind hier zu sehen. Eines davon zieht mich in seinen Bann. Noch nie habe ich ein solch kristallin aufleuchtendes Grün außerhalb der natürlichen Sphäre gesehen. Man taucht darin ein, um auf den tiefsten Grund zu blicken.

Die so unglaublich instagramtaugliche Sonderausstellung von „Yayoi Kusama: Infinity Mirror Rooms“ ist völlig ausgebucht, weshalb wir uns einem klassischeren Thema zuwenden. Zwei große Vorreiter der Abstraktion hat man in der Sonderschau „Hilma af Klint & Piet Mondrian: Forms of Life“ zusammengefügt. Das Kunstschaffen der Schwedin und des Niederländers wird von den Anfängen bis hin zur reinen Gegenstandslosigkeit gezeigt. Der nahezu überall in Europa gleichzeitig stattfindende Durchbruch der abstrakten Malerei zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist eines der großen Phänomene der Kunstgeschichte. Nur rudimentär und ansatzweise kann dieses erklärt werden, weshalb die ewige Diskussion um DIE erste abstrakte Komposition (nicht Kandinsky, sondern Hilma af Klint gebühre einigen Kunsthistorikern zufolge diese Ehre) nicht zielführend ist. Sowohl Hilma af Klint als auch Piet Mondrian kommen aus einer abbildenden Landschaftsmalerei, von der sie sich im Laufe ihrer Laufbahn gänzlich verabschiedet haben. Das ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit. Die künstlerische Idee hinter der Form könnte nicht gegensätzlicher sein. Entwickelt af Klint in Nähe zu Esoterik und Anthroposophie das Vegetabile ins Ornamenthaft-Dekorative, wird Mondrian ab einem gewissen Punkt radikal: Nichts als die reine, nahezu nicht mehr reduzierbare Form und Farbe, die keinerlei Abbildfunktion mehr in sich trägt, lässt er gelten. Sie wird sein künstlerisches Thema. Die Werk- und Lebensbahnen der Schwedin und des Niederländers kreuzten sich nie. Erstaunlich lakonisch wird über diese Tatsache hinweggegangen. Sowohl phänotypisch als auch genotypisch unterschied sich ihre Kunst, die zudem aus völlig heterogenen Quellen gespeist wurde, grundlegend. Diese beiden Maler in einer Ausstellung zusammenzufassen, deren einzige Konjunktion das Thema Abstraktion ist, erscheint mir konstruiert und fragwürdig. Schlussendlich ist es zu wenig für eine solche Sonderschau, deren Erkenntnisgewinn dann auch leider über das ästhetische Erleben nicht hinausreicht.

Jubilierende Schönheit, Kunstreichtum und Eleganz in Fülle umgibt uns am nächsten Tag in einem meiner Lieblingsmuseen. Die Idee so vieler hochvermögender Menschen im 19. Jahrhundert mittels Kunst nicht nur Prestige und Bewunderung zu sammeln, sondern auch einzigartige Orte zu erschaffen, an denen man der Vergangenheit nachspüren darf, haben wir bereits in Paris im Musée Jacquemart André und in Antwerpen im Museum Mayer van den Bergh bestaunt. Nun treffen wir auf einen der größten Kunstsammler seiner Zeit in London. Die Wallace Collection entstand aus der Privatsammlung von Sir Richard Wallace. Klingende Namen wie Tizian, Canaletto, Velázquez, Rubens, Anthonis van Dyck, Rembrandt, Nicolas Poussin, Antoine Watteau, François Boucher, Jean-Honoré Fragonard, Eugène Delacroix, Joshua Reynolds und Thomas Gainsborough sind über die Stockwerke des opulenten Hauses verteilt. Dazu gesellen sich Porzellan aus Sèvres und Meißen, historische Waffen sowie die größte Sammlung französischer Kunstmöbel außerhalb von Frankreich.

 

Mir kommt der schöne Satz Arthur Schopenhauers in den Sinn: „Nur wer echte eigene Gedanken hat, hat echten Stil.“ Eine Sammlung von solch ausgewählter Stilsicherheit zu erschaffen, verrät einen äußerst klug und ästhetisch denkenden Kopf. Tausend Augen möchte ich haben, um alles gleichzeitig sehen zu können. Welch schöne Entdeckung machen wir gleich zu Beginn, wo die nahezu expressiv anmutende Ölskizze der Anbetung der Könige von Rubens hängt, deren großformatige Gemäldenachfolge wir erst kürzlich in Antwerpen bewundern durften. Ich liebe solche überraschenden Begegnungen. Sie sind mir wie unerwartete Geschenke. Künstlerische Ideen, die sich mit Leichtigkeit über Ländergrenzen hinwegsetzen, ungeahnte Verknüpfungen herstellen und so für eine spannungsvolle, wache Neugier sorgen: Das ist Kunsterleben im besten, schönsten und lebendigsten Sinne.

Rubens zauberhafte Landschaft mit einem Regenbogen verrät die feine, nahezu zurückhaltende Anmut, zu der der sonst so gewaltige Barockmeister gerade in seinem Spätwerk eben auch fähig war. Einen nahen Blick gestatten die fröhlichen Niederländer in ihr zuweilen lautes Alltagsleben. Nicolas Poussin lässt zur Musik der Zeit so eindrücklich tanzen, dass Anthony Powell beim Anblick des Bildes in einen „beinahe hypnotisierenden Bann“ gezogen wurde. Die Begegnung mit den sich im ewigen Reigen drehenden Figuren war für den Autor eine Offenbarung. Sie gab dem Schriftsteller nicht nur den Titel, sondern auch die Struktur seines zwölfbändigen Romans „Ein Tanz zur Musik der Zeit“ vor, der ihm den Beinamen des englischen Proust eintrug.

Prächtig ist der Treppenaufgang mit Bouchers Großformaten bestückt. Opulent feiern sie die Freuden der einzelnen Tageszeiten und bestäuben jeden, der diesen Weg nimmt, mit rosafarbener Rokokoleichtigkeit. Und dann hängt im Erdgeschoss ein Gemälde, für das allein es sich lohnen würde nach London zu reisen. Fragonards schaukelndes Mädchen schwingt mit solch berauschender Leichtigkeit zwischen den türkisfarbenen Bäumen ihrem Geliebten entgegen, dass man auf der Stelle mit ihr tauschen möchte. Aus meiner Sicht haftet diesem liebenswürdigen Bild nichts Frivoles an, weshalb es mir stets unverständlich bleibt, warum der ursprünglich vom Auftraggeber ausgewählte Künstler sich dem Motiv verweigerte. Welch ein Glück, dass Fragonard sich der Aufgabe stellte und eines der heitersten und anmutigsten Bilder der gesamten Kunstgeschichte erschaffen durfte.

Schweren Herzens trennen wir uns von diesem bezaubernd schönen Ort und wenden uns der National Portrait Gallery zu, die Porträts historisch wichtiger und berühmter britischer Personen beherbergt. Die Auswahl der Bilder erfolgt aufgrund der Bedeutung des Porträtierten, nicht des Künstlers, der das Werk geschaffen hat. Leider lässt sich aufgrund der Überfülle an Besuchern weder die neue spektakuläre Hängung noch die eindringliche Wandkolorierung wirklich wahrnehmen. Kostenloser Eintritt, ein regnerischer Freitagnachmittag sowie die Tatsache der erst kürzlich erfolgten Wiedereröffnung nach jahrelanger Schließung bewirken einen Ansturm, dem die doch eher schmalen Gänge nicht gewachsen sind. Ich fühle mich bedrängt von der zunehmend dichter werdenden Menschenmenge im Raum, die noch verstärkt wird durch die meist ernsthafte Eindringlichkeit der Blicke aus den Bildern. Dennoch versuche ich mich auf einige der Porträtierten zu konzentrieren und entdecke neben vielen fremden Gesichtern auch Bekannte wie Angelika Kauffmann oder den sein Antlitz so elegant von der eigenen Hand verschattenden, talentierten Mr. Reynolds.

Der nächste Tag wartet mit einem weiteren Höhepunkt auf. Wie sagte die sanfte May Welland so treffend in Martin Scorseses Film „Zeit der Unschuld“: „Und für die National Gallery hatten wir nur EINEN Tag!“ Natürlich bräuchte man Wochen, vermutlich Jahre, um all die Kostbarkeiten angemessen zu betrachten. Aber Ideal und Wirklichkeit klaffen nicht nur in der Kunst oft weit auseinander. In diesem britischen Kunsttempel wird nicht das Prinzip der sich aufbauenden Klimax verfolgt, stattdessen gleichen die Eingangsräume einem kunsthistorischen Paukenschlag. Mr. und Mrs. Hallett von Thomas Gainsborough laden zum morgendlichen (Kunst)Spaziergang. Lebensgroß zeigt der englische Künstler das verlobte, kurz vor der Hochzeit stehende Paar. Federleicht und elegant schreiten die beiden ihres Weges, den sie 48 Jahre zusammengehen werden. Unübertroffen sind Lichteinfall, Farbwahl und Stofflichkeiten dieser Ikone der englischen Malerei.

 

Die weiteren Meisterwerke reihen sich wie Edelsteine an einer Kette. Vieles hat sich seit meinem letzten Besuch verändert. Überraschend neue, meist gelungene Nachbarschaften wurden geschaffen. So muss die so zurückhaltend dreinblickende Dame mit dem Eichhorn nicht mehr die Gesellschaft der vornehmen französischen Gesandten von Holbein ertragen. Sie zog in ein Damenkabinett um, was ihr aber gut zu Gesicht steht, hatten die hohen Herren samt Anamorphose doch meist die gesamte Aufmerksamkeit der Besucher auf sich gezogen. Ihre Stelle hat Bronzinos zarter Jüngling vor pinkrotem Hintergrund eingenommen. Er vermag es, sich mit subtil-arroganter Noblesse gegen die hohen Persönlichkeiten zu behaupten. Die Dame mit Eichhörnchen kann an ihrem neuen Platz nun trotz des kleinen Formats ihre gesamte Strahlkraft entfalten. Kein anderer als der so rätselhaft unbekannt gebliebene Holbein vermochte es, Menschen mit solch undurchdringlicher Exaktheit darzustellen. Von einer extravaganten schneeweißen Hermelinhaube beschützt und von einem vorwitzigen Star spitz beobachtet, hält die junge Frau ernst und würdevoll das angekettete kleine Tier vor ihrer Brust, als gäbe es keine wichtigere Aufgabe in ihrem Leben. Und dennoch, trotz aller Strenge und Unnahbarkeit; wie Holbein das weiche Fell des Eichhörnchenschwanzes genau an der Stelle, der vom hauchzarten Stoff des Hemdes freigelegten Stückes Haut platziert, ist kein Zufall, sondern allergrößter Kunstverstand.

Wir schlendern zum grandiosen Tizian, erschauern vor der Kaltblütigkeit der sinnlichen Delila Rubens‘, verharren vor Caravaggios lebendig-düsterem Abendmahl von Emmaus und betrachten den frühesten Akt der spanischen Malerei, die sogenannte Rokeby Venus von Velázquez, die er für den eigentlich so sittenstrengen König gemalt hat. Mit Erstaunen erkennen wir, dass diese nackte Frau genau jene Partien nicht zeigt, die die einzigen waren, die das strenge spanische Hofzeremoniell der Damenmode jener Zeit zubilligte: Gesicht und Hände. Um einiges emanzipierter strahlt uns die fröhliche Elisabeth Vigée-LeBrun entgegen. Mit blumengeschmücktem Strohhut und einladendem Lächeln hält sie sowohl die imaginären Fäden ihres erfolgreichen Berufslebens als auch die Palette samt Pinsel in der Hand. Die Frau, die den Doppelnamen erfunden hat, darf meine nicht repräsentative äußerst subjektive kleine Auswahl all dieser Meisterwerke würdig beschließen.