top of page

Gedanken zu Rubens in Antwerpen

Liebfrauenkirche (Onze-Lieve-Vrouwekathedraal), Königliches Museum der Schönen Künste (Koninklijk Museum voor Schone Kunsten)

„Ich wüsste nicht, was ich an meinem Freund Peter Paul Rubens am meisten loben sollte, seine Gewandtheit in der Malerei, worin er Kennern zufolge die Vollkommenheit erreicht hat – sofern jemand das heutzutage vermag – oder seine umfassende Kenntnis der Literatur oder seine feine Einsicht, die mit einer besonders angenehmen Sprachfertigkeit und Konversation einhergeht.“ Der bayerische Theologe Caspar Schoppe schrieb dieses Loblied über Rubens im Jahre 1607. Wo könnte man nun gut 400 Jahre später besser den Spuren des Barockmeisters folgen, als in Antwerpen, der Stadt in der Rubens den Großteil seines Lebens verbrachte und seine größten Erfolge feierte? Geboren wurde Peter Paul Rubens am 28. Juni 1577 jedoch in Siegen. Die religionspolitischen Unruhen jener Zeit hatten aus der Familie Glaubensflüchtlinge gemacht. Erst nach dem Tod des Vaters konnte die Mutter Maria Pypelinckx zusammen mit ihren Kindern wieder in die Heimatstadt zurückkehren. Antwerpen war mittlerweile von den spanischen Herrschern rückerobert und rekatholisiert worden. Ein Umstand, der auch für die Karriere des späteren Malerfürsten Rubens von großem Belang war. Waren doch alle Kirchen während des protestantischen Intermezzos nahezu gänzlich ihrer Innenausstattung und Bilder beraubt worden, sodass ein gewaltiger Bedarf an großformatigen, die Menschen im katholischen Glauben festigenden, Altargemälden bestand.

 

Zunächst genoss Peter Paul aber eine fundierte Schulbildung und kam als Page bei Marguerite de Ligne in Diensten, wo er höfische Umgangsformen erlernte, die ihm bei seinen späteren diplomatischen Tätigkeiten äußerst hilfreich sein sollten. Weshalb die standesbewusste Mutter den Sohn in eine Malerausbildung schickte, ist bis heute nicht geklärt. Vermutlich geschah es aufgrund des Talents und des Willens des Jungen. Nach Stationen bei unterschiedlichen Malern wurde Rubens 1598 als Meister in die Lukasgilde aufgenommen und brach 1600 nach Süden auf. Er erhielt eine Stellung beim Herzog von Mantua, Vincenzo I. von Gonzaga. Dieser gestattete seinem Hofkünstler jedoch viele Freiheiten, sodass Rubens die Gelegenheit nutzte und ausgedehnte Studienreisen durch ganz Italien unternahm. Das dort Gesehene und Gelernte hielt er in atemberaubenden Studien, Skizzen und Zeichnungen fest, die eine wichtige Grundlage für sein gesamtes Kunstschaffen sein sollten. Stets finden sich in seinem späteren Oeuvre Anverwandlungen der italienischen Zeit. Rubens war einer der Ersten, der die Technik der Rötelzeichnung in ihrer Eigenart nutzte, grafisch nicht nur Linien und Konturen, sondern auch Volumina und die Sinnlichkeit von Oberflächen darzustellen. Die Blätter des Torso vom Belvedere beispielsweise gehören in ihrer physischen Präsenz und ästhetischen Überzeugungskraft mit zu den schönsten Werken von Rubens Hand.

 

Eine Reise nach Spanien, wo er kostbare Geschenke des Herzogs von Mantua an Philipp III. zu überbringen hatte, nutzte Rubens auch, um wichtige Kontakte zu knüpfen. So gelang es ihm, den einflussreichsten Mann Spaniens nach dem König, den Herzog von Lerma, in einem überwältigenden Reiterporträt äußerst vorteilhaft darzustellen. Nach seiner Rückkehr, verweilte er noch etliche Jahre jenseits der Alpen. In Rom führte Rubens zusammen mit seinem Bruder einen Hausstand und verkehrte, auch auf dessen Vermittlung hin, in höchsten intellektuellen Kreisen. 1608 kehrte Rubens nach Antwerpen zurück. Eine vorteilhafte Heirat festigte seinen gesellschaftlichen Stand. Zahlreiche prestigeträchtige und lukrative Aufträge erhielt er nun in rascher Abfolge.

An unserem ersten Tag in Antwerpen nehmen wir gleich drei dieser Glanzstücke in Augenschein. Betritt man heute die Liebfrauenkathedrale, nimmt das Zentrum die in himmlische Gefilde emporschwebende Muttergottes ein. 1625 hatte Rubens den Auftrag für das Hochaltarbild erhalten. Auch wenn die leibliche Auffahrt Mariens in den Himmel erst 1950 von der katholischen Kirche zum Dogma erklärt wurde, erfreute sich das Thema spätestens seit der Renaissance großer Beliebtheit. Tizians Assunta in Venedig bildet einen ersten Vorklang auf die jubelnde Symphonie, die Rubens nun zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Antwerpen komponiert. Wie jenes italienische Vorbild, ist das flämische Meisterstück ebenfalls ein koloristisches Feuerwerk. Im großzügigen Hochformat – auch das eine Neuerung, die sich der nördliche Barockmaler von seinem südlichen Kollegen abgeschaut hatte – darf sich das heilige Spektakel zu voller Wirkmacht entfalten. Die nun angestrebte Überwältigung des gläubigen Betrachters ist dabei der entscheidende Unterschied. Malte Tizian noch im eleganten Maße einer in ihrer Zurückhaltung spürbaren harmonischen Ästhetik der venezianischen Renaissance, steigert Rubens die physische Präsenz des Geschehens. Dennoch sollte man sich vom temperamentvollen Überschwang der Werke nicht täuschen lassen. Kein Chaos, keine Unordnung entsteht aus ihm oder liegt ihm zu Grunde. Dies ist die unnachahmlich hohe Kunst der Barockmalerei: all die wirbelnde Bewegungsfreude basiert auf einer diszipliniert geordneten Struktur. So ist der Bildvordergrund von drei sich exakt zueinander harmonisch verhaltenden Figuren gestaltet. Die den linken Bildrand dominierende, hochaufragende männliche Gestalt, die rechts oben ihr koloristisches Engelspendant erhält, schließt das Gemälde zu dieser Seite hin ab und bereitet die nach oben strebende Bewegungsrichtung der Mutter Gottes auch im unteren Bereich des Bildes vor. Die schöne, blonde, mittig kniende Frauenfigur daneben führt durch ihre Anmut den Betrachter sanft in das Bildgeschehen ein. Weiter rechts kann man selbst an seiner Rückenansicht erkennen, welch unglaubliches Erstaunen Petrus erfasst hat. Kraftvoll und energisch schreitet er in den Bildraum hinein und beugt sich in das leere Grab. Jene drei Figuren bilden die vordere Reihe eines eleganten Ovals, das sich in die gesamte Bildbühne wie ein Reigen um die Grabesstätte herum erstreckt. Lenken die Personen der rechten Seite ihre Aufmerksamkeit nach unten und so in die Vergangenheit, die durch die Leere des Grabes symbolisiert wird, erheben die Figuren der linken Bildhälfte ihre Blicke nach oben. Der irdischen Kreisbewegung ist also auch noch eine weitere Richtung, die in himmlische Sphären aufstrebende Höhe, eingeschrieben. Und hier in dieser himmlischen Höhe erscheint in überirdischer Grazie die von quirligen Putten getragene Mariengestalt. Sie bildet ein dominantes Pendant zu der blonden Schönheit auf Erden und befindet sich im Zentrum eines Ovals. Äußerst beliebt war im Barock diese Form, die die endlose Perfektion des Kreises mit der spannungsreichen Dynamik einer leichten Längung vereint. In ihr steht jede Figur paarbildend zu einer anderen in Beziehung und ist gleichzeitig aber auch Teil des großen Ganzen. Auf künstlerisch einzigartig überzeugende Weise hat Rubens das Irdische fulminant mit dem Göttlichen in Einklang gebracht. Diese von tiefgehender ästhetischer Wahrheit durchdrungene Kunst kann selbst die heutigen, vermutlich meist ungläubigen, Betrachter nicht anders als staunen machen.

 

Neben diesem malerischen Wunderwerk gibt es in der Kirche aber noch zwei weitere zu bestaunen. Am linken Seitenaltar befindet sich die nicht minder berühmte Kreuzaufrichtung aus dem Jahr 1609, die der Künstler ursprünglich für die heute nicht mehr existierende Walburgiskirche geschaffen hat. Auch wenn der originäre Aufstellungsort ein anderer war, bleibt die Wirkung des Bildes in der Kathedrale überwältigend. Die biblisch nicht überlieferte Szene der Kreuzesaufrichtung gestaltet er als brachialen physischen Gewaltakt, als wolle er dem Betrachter vermitteln, welch körperliche Brutalität von Nöten gewesen war, einen erwachsenen Mann auf diese Art zu Tode zu bringen. Durch die Überbetonung der Körperlichkeit wird auch die Rezeption nahezu ins Körperliche gesteigert, der man sich nur schwer entziehen kann. Die Physis avanciert zum Inhaltsträger. Vom kraftvollen „Wüten des Pinsels“ sprach bereits Giovanni Pietro Bellori in seiner Rubens Vita aus dem Jahr 1672.

Vorbildhaft sowohl in der Gestaltung Jesu als auch der Schergen waren antike skulpturale Bildwerke und Figuren von Michelangelos Hand, die der Flame aus seiner römischen Studienzeit kannte. Wie Rubens jene marmornen Formen nun ganz aus der Farbe heraus gestaltet, den steinernen Vorbildern zu koloristischer, sinnlicher Lebendigkeit verhilft, war etwas großartig Neues. Verbunden mit einem Variantenreichtum an unterschiedlichen Motiven – einer Hauptforderung der damaligen Kunsttheorie – sowie einem klug durchdachten Kompositionsschema entsteht ein weiteres Meisterwerk, das schon die Zeitgenossen in „ein Schaudern nicht ohne heiligen Antrieb“ versetzte.

Heute hängt diesem übergroßen Bild, das nach der Assunta Tizians das erste Altarblatt solcher Dimensionen nördlich der Alpen darstellt, als Pendant im rechten Kirchenschiff die Kreuzabnahme gegenüber, welche von der Kolveniers-Gilde für diesen Ort in Auftrag gegen worden war. Nicht auf Fernsicht, sondern zur stillen persönlichen und nahbaren Kontemplation hin, ist dieses Gemälde ausgerichtet. Ja, auch heute überfällt uns ein grauenvolles Schaudern bei dem Gedanken welche Qualen zwischen diesen beiden Bildern stattgefunden haben. Welch unglaubliche Schmerzen, welch unerträgliches Warten muss es gewesen sein, um jenen kraftstrotzenden, in der Blüte seines Lebens stehenden männlichen Leib vom linken Seitenaltar in diesen leblosen Zustand zu versetzen. Schreit einem die Kreuzesaufrichtung nahezu in ihrer lauten Brutalität entgegen, herrscht Stille und endlose Trauer in der Darstellung der Kreuzabnahme. Vielleicht entfährt ein leises Seufzen den todesblassen Lippen der Maria, vielleicht hört man das stille Rascheln des Leichentuchs. Sacht und behutsam wird die Abwärtsbewegung des Leichnams von allen Figuren wiederholt. Jeder findet seine eigene Geste, seine eigene Körpersprache, den Toten zu begleiten. Es seien „Monumente, die ohne irgendwelche Worte hinreichend sprechen“ schrieb bereits der Zeitgenosse Dominicus Baudius. Auch in diesem Werk vereint Rubens auf vielfältige Weise Vorbilder, die er mit wachem Auge gesammelt hat. So taucht das Motiv des mit den Zähnen gehaltenen Leichentuches auf einem Kupferstich des italienischen Künstlers Giovanni Battista Franco aus dem Jahr 1530 auf, das eine Grablegung Christi zeigt. Übernahmen galten im 17. Jahrhundert nicht als Mangel an eigenen Ideen, sondern als Wertschätzung des Kollegen. Schließlich orientiert man sich nur am Besten!

 

Die Affektstärke der Bilder hallt in uns noch lange nach. Wie überzeugend in ihrer Größe, in ihrer Kompositionskraft, in ihrer grandiosen Macht der Überwältigung müssen sie auf die Menschen damals gewirkt haben. Wie gerufen muss der in ihrer Wiedererstarkung sich feiernden katholischen Kirche ein Maler wie Rubens gekommen sein. Künstlerisch rigoros lässt er keinerlei Zweifel, an dem was er zeigt.

 

Da das berühmte Wohnhaus des Künstlers just zu jener Zeit als wir in der Stadt sind für eine langwierige Renovierung geschlossen wird, besuchen wir am nächsten Tag das Königliche Museum für Schöne Künste. Nach aufwändiger 11-jähriger Restaurierung strahlt es nun in zeitgemäßem Glanz. Die Eingangshalle zeigt sich prächtig im Geschmack des 19. Jahrhunderts mit allerlei Reminiszenzen an die Größen der Kunstgeschichte. Welch eine Überraschung bietet sich uns dann aber in den Ausstellungsräumlichkeiten: vom althergebrachten kuratorischem Konzept der Bilderhängung ist hier nichts mehr zu sehen. Keine Chronologie im eigentlichen Sinne, auch keine strikte Trennung nach Künstlern oder Schulen erwartet den interessierten Besucher, sondern eine Gliederung nach für jedermann nachvollziehbaren Themen, Begriffen und Motiven. Jeder Raum erhält eine Art Überschrift zusammen mit einem knapp, aber inhaltsreich verfassten Text. So gibt es einen Raum, der den Schmerz in der Kunst zeigt, andere widmen sich den Themen Macht, Farbe oder dem Bösen schlechthin. Auch Lektionen fürs Leben werden erteilt. Ein charmanter Einfall der Kuratoren ist es, jeweils ein signifikantes Detail der ausgestellten Bilder in dreidimensionaler Extragröße aus den Gemälden heraustreten zu lassen. Eine dräuende Riesenhand erhebt sich erschreckend über mir. Ein Schädel fällt aus Dalis Gemälde heraus. Zwei flauschige purpurne Dromedare scheinen der Rubensschen Anbetung der Könige entlaufen und haben in der Mitte des Raumes nun Platz genommen um, je nach Alter und Temperament, entweder als gemütliches Sofa oder Klettergerüst zu dienen. Im unteren Geschoss mit den Alten Meistern intervenieren meist immer intelligent und bereichernd zeitgenössische Werke. Im Obergeschoss, das die Moderne zeigt, gestaltet sich das Prinzip umgekehrt. Kunst als individuelles Erleben wird so auf kluge, bisweilen auch humorvolle zeitgenössische Weise den Besuchern nahbar vermittelt und erzählt. So geht exzellentes Kuratieren im 21. Jahrhundert!

 

Amüsiert oder betroffen, lächelnd oder melancholisch gestimmt schlendern wir durch das Museum. Neugierig nehmen wir Platz in einem immersiv gestalteten Raum, dessen Wände von Videoanimationen überzogen werden, die ebenfalls Exponaten entnommen sind, um uns in eine virtuelle Welt entführen zu lassen. Für gewöhnlich bin ich kein Freund solcher Spielereien; hier wurde das Ganze jedoch so zurückhaltend und elegant in Szene gesetzt, dass auch ich mich der Faszination nicht entziehen kann. Zurück in der Wirklichkeit dürfen wir an der Zusammenkunft sehr bedeutender Frauen teilhaben. Im Raum, der sich der Darstellung der Madonna widmet, treffen äußerst unterschiedliche Damen aufeinander: Jan van Eycks zauberhaft zarte kleine Mariengestalt hängt neben der so überaus selbstbewussten, bis heute hochberühmten Madonna des Jean Fouquet. Kommt uns Heutigen die in ihrer erotischen Anziehungskraft nahezu unheilige Dame blasphemisch vor, gestaltete der Maler auf Wunsch des Aufraggebers Étienne Chevalier damals mit diesem Werk auch eine Hommage an den König. Das ursprüngliche Diptychon (der linke Flügel mit Stifterbildnis und Hl. Stephanus ist heute in der Gemäldegalerie in Berlin zu sehen) war vom königlichen Schatzmeister für seine Grabesstätte bestimmt gewesen, wo einmal täglich eine Messe für sein Seelenheil zu lesen war. Im Bildwerk dient er sich der Fürbitte der Himmelskönigin an, der der Künstler die Züge der damals schönsten Frau und Königsgeliebten verliehen hat. Agnès Sorel war eine strahlende Erscheinung, deren modische Extravaganzen die Priester auf den Plan gerufen, den König jedoch sehr entzückt haben. Jean Fouquet hat ihr in diesem Bild ein bleibendes Denkmal gesetzt. Nicht größer könnte der Unterschied sein zur jungfräulichen Mädchenhaftigkeit der van Eyckschen Maria.