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Gedanken zu einem Ausflug nach München

„Frei leben!“ im Literaturarchiv Monacensia, „Vive le Pastel“ in der Alten Pinakothek, „Nebel Leben“ im Haus der Kunst

Im Juli 2022 leuchtet München nicht nur, es glüht. Im Vergleich zu dem, was die Frauen der Münchner Bohème wagten, um ans ersehnte (Lebens)Ziel zu gelangen, ist eine Fahrt in die Landeshauptstadt bei 38 Grad aber gar nichts. „Ich will und muss einmal frei werden; es liegt nun einmal tief in meiner Natur, dieses maßlose Streben, Sehnen nach Freiheit … ich muss gegen alle Fesseln, alle Schranken ankämpfen, anrennen.“ So schrieb 1890 Franziska Gräfin Reventlow an einen Freund. Sie ist die bekannteste der drei Frauen, denen die im schönen Bogenhausen gelegene Monacensia eine Ausstellung widmet. Fanny zu Reventlow, Margarete Beutler und Emmy Hennings, die spätere Ehefrau von Hugo Ball, einte ihre kompromisslose Einstellung zur Freiheit, ihr Pochen auf die Entscheidungshoheit über das eigene Leben und ihr Kampf gegen das Elend der weiblichen Benachteiligung. Teuer erkauften sie sich, was für Männer seit jeher selbstverständlich war. Sie stellten sich gegen familiäre Zwänge, wehrten sich gegen eine unterdrückende Ehe und setzten Selbstbestimmtheit an erste Stelle der eigenen Prioritätenliste, zu einer Zeit als dies für Frauen überhaupt nicht vorgesehen war.

Die Ausstellung ist unaufgeregt, ohne Effekthascherei, dafür umso eindringlicher aus der Perspektive der drei Frauen erzählt. Vornehmlich in Selbstzeugnissen lassen die Kuratorinnen die drei Protagonistinnen berichten vom hohen Preis, den ihr freies Leben fordert: Die Gesundheitsversorgung war miserabel, die Ernährung häufig mangelhaft, die gesellschaftliche Zurückweisung überall spürbar. Alle drei waren im Literaturbetrieb tätig, einem der wenigen Betätigungsfelder für kluge Frauen. Sie schreiben Bücher, übersetzen, verfassen Artikel für Magazine wie die „Jugend“, treten im Kabarett auf, verkaufen Theaterkarten und wenn nichts anderes mehr geht auch sich selbst. Immer leben sie knapp an der Armutsgrenze. Reventlow und Hennings, die sich zeitweise prostituieren, stehen auch noch mit einem Bein im Gefängnis. Reventlow wählte die unter Haftstrafe stehende „gewerbliche Unzucht“ als letzten Ausweg, wenn sie und ihr Sohn nichts mehr zu essen hatten. Die Gräfin und Beutler zogen – ein weiterer Skandal zu jener Zeit – ihre Kinder alleine groß.

Alle drei waren sie Einzelkämpferinnen, hatten jedoch das gleiche Ziel „Frei leben!“, so ist auch die Ausstellung betitelt. Individuelles Lebensglück jenseits der von Männern geschriebenen Normen, Konventionen und Vorgaben – wie selbstverständlich erscheint es uns. Wie mutig und neu es zu jener Zeit auch in Deutschland war, verdeutlicht der wunderbare Satz Emmy Hennings: „Mein einziger Beruf ist das zu erlernen was ich bin.“

Jenseits der Isar, einige Kilometer entfernt kann man in der kleinen charmanten Ausstellung „Vive le Pastel“ in der Alten Pinakothek eine andere Frau antreffen, die für ihre Zeit ebenfalls einen erstaunlichen Werdegang beschritten hat. In der derzeitigen Sonderschau sind gerade zahlreiche pudrig-zarte Kunstwerke versammelt, die sich vor allem im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten. Rosalba Carriera war die unangefochtene Meisterin der Pastellkunst. Ihre sanften Darstellungen weiblicher Schönheit verhalfen der Künstlerin zu einer einzigartigen Karriere. August II. war vom Können der Italienerin so begeistert, dass er mit 150 Werken die größte Sammlung von Werken ihrer Hand zusammentrug. Auch das Bild der Parze Klotho, um 1730 entstanden, gehörte früher in die Gemäldegalerie Dresden und zeugt heute in München von Carrieras anmutiger Technik. Mit hintergründigem Lächeln hält die junge Frau einen Faden zwischen den grazilen Fingern. Weniger realistisch als von hocheleganter Unschärfe zeigt sich die Schicksalsgöttin, deren Aufgabe es ist den Lebensfaden eines Menschen zu spinnen, der von Lachesis bemessen und von Atropos abgeschnitten wird.

 

Überhaupt scheint die Technik des Pastells für Frauendarstellungen besonders beliebt. Der französische Maler Jean-Étienne Liotard hatte für sie eine große Vorliebe. Vermutlich kennt jeder sein berühmtestes Bild, das tausendfach reproduzierte Schokoladenmädchen, aus der Dresdner Gemäldegalerie. Da betritt ein junges Dienstmädchen von links die Szene, das mit Sorgfalt ein Tablett samt Schokoladentasse und Wasserglas in Händen hält. Wie eine zeitliche Fortsetzung des Geschehens in Dresden zeigt sich das Bild aus München, wo die Frage, wem denn nun eigentlich diese Köstlichkeit serviert wird, auf reizende Art beantwortet wird. Das einige Jahre später als das Dresdner Bild vermutlich um 1752 entstandene Pastell, zeigt nämlich, neben der knapp vom linken Bildrand angeschnittenen Dienerin, eine vornehme junge Dame als Empfängerin des Heißgetränks.

Liotard hatte ein besonderes Faible für exquisite Frühstücksgenreszenen. Die süße kleine Vormittagsmahlzeit war erst kürzlich bei Jenen, die es sich leisten konnten, in Mode gekommen. Sowohl die Aufmachung der eleganten Dame mit den eng um den Kopf frisierten, gepuderten Löckchen, das kostbar bemalte Porzellan, der feine Goldrand des Glases sowie das damals so beliebte Heißgetränk erzählen vom luxuriösen Lebensstil der Oberschicht um 1740. Schokolade trank man damals schwer gewürzt und dickflüssig. Im Gegensatz zu Kaffee galt es als besonders geeignet für Kinder und Frauen. Mit größter Detailliebe, die die Pastellmalerei möglich macht, wird die bezaubernde Rokoko Szene bis ins Kleinste minutiös und nahsichtig beschrieben. 

 

Sehr beliebt war im 18. Jahrhundert diese Technik, deren Alleinstellungsmerkmal es ist, dass die Farbpigmente nicht mit flüssigen Bindemitteln vermengt, sondern trocken in Stiftform gepresst werden. Nuancenreiche Übergänge, stupende Oberflächen, eine koloristische Sinnlichkeit, wie sie die Ölmalerei nur selten hervorzubringen vermag, zeichnen die Vorzüge des Pastells aus. Der Nachteil ist die Empfindlichkeit. Eine Erschütterung genügt und der Farbpuder löst sich vom Malgrund. Stets müssen die Bilder aufgrund des fehlenden Firniss hinter Glas gehalten werden. Vornehmlich im 18. Jahrhundert hat das aber die hochrangigen Auftraggeber nicht davon abgehalten, sich in dieser Technik großformatig porträtieren zu lassen. Dies war jedoch erst möglich, als auch die Glasherstellung so weit fortgeschritten war, dass größere Scheiben produziert werden konnten.

 

Beeindruckend präsentiert sich die Familie des französischen Thronfolgers in einer Porträtreihe von Joseph Vivien. Wie für die damalige Zeit üblich, waren die familiären Beziehungen zwischen den großen europäischen Dynastien durch Heirat eng verknüpft. So war die ältere Schwester des bayerischen Kursfürsten Max Emanuel mit Louis von Bourbon verheiratet. Das Ehepaar und seine drei Söhne hat der führende Pastellmaler der Zeit um 1700 mit berückender Lebensnähe festgehalten. Alle vier Männer werden in ihrer Funktion als dem französischen Königshaus zugehörig in herrischer Machtpose in Untersicht gezeigt. Sowohl der Vater als auch seine Söhne tragen Rüstung und wallende Allongeperücke. Und dennoch versteht es Vivien hinter aller barock-absolutistischer Attitüde die vier Männer feinsinnig und individuell zu skizzieren. Oder wie es der zeitgenössische Kunsttheoretiker de Piles ausdrückt: „Der beste Maler (…) ist derjenige, der Naturbeobachtung und Ideal in seinem Werk verbindet, mit dem Effekt, dass „dieses schöne Wahrscheinliche“ dann sogar „wahrer zu sein“ scheine „als die Natur selbst“.“

Eine durch und durch zeitgenössische Beobachterin der Natur und all ihrer Erscheinungsformen steht als letzter Programmpunkt in München an. Im Haus der Kunst ist die Ausstellung „Nebel Leben“ der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya zu erleben. Begleitet von teilweise dokumentarischen Zeugnissen ihres Werkschaffens im oberen Stockwerk, verschwinden die Räume des Erdgeschosses und ihre Besucher jede halbe Stunde im Wasserdampf. „Nebel lässt sichtbare Dinge unsichtbar werden, während unsichtbare – wie Wind – sichtbar werden.“ Vielleicht sind doch zu viele Menschen an jenem letzten Tag der Ausstellung anwesend, als dass man sich dem wie von Zauberhand über die eigene Wahrnehmung legenden Spektakel gänzlich hingeben könnte. Der Reiz des Existierenden, wenn auch Unsichtbaren wird aber deutlich und entfaltet eine ganz spezielle Faszination.

Und ja, auch im Nebel leuchtet München natürlich.

https://www.muenchner-stadtbibliothek.de/monacensia-im-hildebrandhaus

https://www.pinakothek.de/besuch/alte-pinakothek

https://www.hausderkunst.de/ausstellungen/fujiko-nakaya-nebel-leben

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