Gedanken zu einer adventlichen Kurzreise nach Wien
Kunsthistorisches Museum, Idole und Rivalen, Leopold Museum, Wien 1900, Heidi Horten Collection, LOOK
Schon Karl Kraus wusste, dass die Straßen anderer Städte mit Asphalt gepflastert seien, jene in Wien aber mit Kultur. Und so ist der Anlass unseres erneuten Aufenthaltes in der österreichischen Metropole natürlich ein kultureller. Die große Herbstausstellung im Kunsthistorischen Museum lockt mit dem Versprechen eines künstlerischen Konkurrenzkampfes auf höchstem Niveau. „Idole und Rivalen“ heißt die Schau, die sich dem künstlerischen Wettstreit widmet.
Häufig kann erst der Vergleich, das Messen am Anderen, sich Unterscheidenden die Einzigartigkeit eines Kunstwerks oder Künstlers dem Betrachter deutlich machen. Bereits in der Antike war man sich dessen bewusst. Tausendfach erzählt wurde seither die von Plinius d. Ä. überlieferte Geschichte der beiden Maler Zeuxis und Parrhasius, die im edlen Wettstreit gegeneinander antraten. Der eine erschuf so natürliche Trauben, dass sogar Vögel danach pickten. Parrhasius jedoch malt einen Vorhang vor sein Gemälde, den der Konkurrent tatsächlich zu Seite ziehen wollte. So war die Herausforderung für Letzteren entschieden, da dieser, anders als Zeuxis, nicht nur Tiere, sondern sogar Menschen täuschen konnte und mit seiner Kunst die Natur selbst übertroffen hatte.
Auch der Rundgang beginnt mit Einblicken in die Antike. Damals schufen für den größten Tempel jener Zeit, das Artemision in Ephesos, griechische Bildhauer um 430 v. Chr. Statuen verwundeter Amazonen. Da die Künstler jedoch auch die Jury bildeten, war das Ergebnis der Entscheidung, wer nun die beste Skulptur geschaffen hatte, wenig zielführend, denn jeder von ihnen hatte die seine auf den ersten Platz gewählt.
Ist der Beginn der Schau schon beeindruckend, so lassen die nachfolgenden Räume das Kunsthistorikerinnherz höherschlagen. Sie gestalten sich wie die schönste, real gewordene Vorlesung. Fulminant eröffnen den künstlerischen Reigen die beiden hochberühmten, im Kontext eines Wettbewerbs entstandenen Bronzereliefs von Ghiberti und Brunelleschi für das Florentiner Baptisterium. (Siehe hierzu meinen Blogbeitrag: Gedanken zu einer Florentinischen Reise – Erster Teil) Michelangelo und Leonardo schließen sich diesem an. Beide hatten sie den ehrenvollen Auftrag erhalten für die Wände des Palazzo Vecchio Schlachtengemälde zu entwerfen. Heute sind die Kartons, die maßstabsgetreuen Vorzeichnungen, nurmehr in kleineren Kopien von fremder Hand erhalten. Dennoch zeugen die Zeichnungen vom grundverschiedenen künstlerischen Denken der beiden Großmeister um 1500. Leonardo, der Pferdefreund, lässt mehrere Reiter im Kampf um die Standarte sich zu einem furchteinflößenden Knäuel zusammenballen. Die zerstörerische Wucht der mörderischen Entschlusskraft der Kämpfer wird in einem einzigen Moment bis an die Grenze der Erträglichkeit getrieben. Erst durch dieses sekundenkurze Innehalten scheint die unmittelbar darauf einsetzende Entfesselung der Kräfte nahezu physisch spürbar.
Ganz anders denkt und gestaltet Michelangelo seine Vorzeichnung zur Schlacht von Cascina, einer kriegerischen Auseinandersetzung aus dem 14. Jahrhundert, in der die Florentiner den Erzrivalen Pisa besiegten. Wenige andere Werke der Kunstgeschichte vermögen so erkenntnisreich zu vermitteln, wie wichtig die Wahl des künstlerischen Moments ist. Kein Kampfesgetümmel, kein grausames Spektakel bietet Michelangelo dem Betrachterauge dar, stattdessen Männer in äußerster Eile. Gerade noch nahmen sie ein kühlendes Bad gegen die sommerliche Hitze im Arno, als sie der Angriff der Feinde überrascht. Nun heißt es auf die nasse Haut Kleidung und Rüstung zu zerren, in Sekundenschnelle aus legerer Ruhe zu höchster Wachheit zu gelangen. Die nackte männliche Figur in Bewegung war Michelangelos großes künstlerisches Thema. Auch in diesem Auftrag hat er sein Lieblingsmotiv mit einzigartiger Bravour umgesetzt.
Von welch unglaublichem Nachhall die Bildfindungen des bereits von seinen Zeitgenossen als göttlich bezeichneten Künstlers Michelangelo waren, zeigt unter anderem eines der berühmtesten Objekte des Wiener Museums. Die beiden Liegefiguren auf Cellinis filigranem Salzfass sind in anderem Material und auf Kleingröße reduzierte, hochvirtuose Nachahmungen der in ihrer Innovationskraft so atemberaubenden Marmorfiguren, die Michelangelo für die Grabkapelle der Medici in Florenz geschaffen hatte.
Anders als die großen Männer ihrer Zeit, die sich im Konkurrenzkampf schon einmal gegenseitig den Tod an den Hals wünschten, gebärden sich die so lange im Schatten ihrer männlichen Kollegen stehenden Künstlerinnen weitaus höflicher. Lavinia Fontana, eine der begabtesten Malerinnen jener Zeit, tritt mit ihrem sensiblen Tondo, das sie als belesene und antikenbegeisterte, wohlgekleidete Malerin zeigt, in Konkurrenz mit der hochgelobten Sofonisba Anguissola. Die Nachbarschaft ihrer beider Selbstporträts kommentiert sie demütig mit der Einschätzung, dass Sofonisbas Werke neben den ihren noch mehr Glanz enfalten könnten.
Bisweilen schien es aber nicht genug, sich am Gegenüber nur zu messen. Das geschätzte Vorbild sollte sogar noch übertroffen werden. Aemulatio et superatio lautet die Überschrift über einem Raum, der neben zahlreichen anderen Kostbarkeiten einen der reizvollsten Vergleiche der Kunstgeschichte zeigt. Auf Tizians zauberhafte Dame im Pelz antwortet Rubens mit barockem Überschwang, in dem er die damals so bewunderten Rundungen seiner schönen zweiten Frau Hélène Fourment nur mühsam vom luxuriösen Pelz umfangen lässt. Die distanzierte Anmut und Vornehmheit der Venezianerin aus dem 16. Jahrhundert verwandelt Rubens in eine nahbare, sinnliche Darstellung einer von ihm geliebten Person. Rubens hatte Tizian sein Leben lang bewundert, studiert, kopiert und anverwandelt. Das großfigurige Porträt mit den unverkennbaren Anleihen an Tizians elegantes Damenbildnis, ist vermutlich die schönste Verbeugung vor dem venezianischen Malerfürsten.
Aber nicht nur auf praktischer Ebene wurde der künstlerische Wettstreit ausgetragen. Im Paragonediskurs, der das gesamte 16. Jahrhundert dominierte, diskutierte man die dringliche Frage, welche Kunstgattung die höchstrangige sei. Meist untermauerten die Künstler ihre theoretischen Thesen zusätzlich durch Werke. So kann man bestaunen wie der Maler Lorenzo Lotto die Bildhauer Lügen straft in ihrer Argumentation, nur die Skulptur hätte das Anrecht auf Vielansichtigkeit. Virtuos und von großer natürlicher Lebendigkeit zeigt er einen Goldschmied en face sowie in unterschiedlichen Profilansichten. Genüsslich demonstriert auch der Maler Marten Jozef Geeraerts das Vermögen der Malerei, die Bildhauerei nachzuahmen, was umgekehrt aber unmöglich sei. Täuschend echt malt er die Marmorbüste seiner Auftraggeberin.
Vieles ließe sich von dieser außergewöhnlichen Schau noch berichten, von fruchtbaren Lehrer-Schüler-Verhältnissen bis hin zu den im 19. Jahrhundert so beliebt werdenden Salonausstellungen, wo erstmals das Publikum sich in großem Umfang selbst ein Bild machen und ein Urteil fällen durfte. Charmant ist deshalb der Einfall an digitalen Stationen den heutigen Besucher als Jurymitglied eines virtuellen Wettstreits fungieren zu lassen.
Konkurrenzlos gut gemacht ist die Ausstellung „Wien 1900“, die wir am folgenden Tag im Leopold Museum in Augenschein nehmen. Die Schau widmet sich der Stadtgeschichte Wiens und zeigt eindrücklich die vielfältige und spannungsreiche Heterogenität der Kunst und Kultur der Donaumetropole an einer der wichtigsten Schnittstellen der europäischen Geschichte. Realismus trifft auf Expressionismus, Eklektizismus auf Moderne, Tradition auf Innovation, Plüsch auf schlichte Sachlichkeit. Der Modesalon von Klimts Lebensfreundin Emilie Flöge ist dafür ein bezaubernd schönes Beispiel. Originalgetreu wurde er aufgebaut mit den von Koloman Moser entworfenen Möbeln in strengem Schwarzweiß, die die Opulenz jener Jahre zwar noch in sich tragen, in ihrer äußeren Formensprache aber bereits in die Zukunft vorausweisen.
Seltsam altmodisch hingegen mutet die Ausstellung „LOOK“ im erst kürzlich eröffneten Museum Heidi Horten Collection an, das die Privatsammlung der Kaufhauserbin und Milliardärin zeigt. Anrührend in seiner ostentativen Subjektivität der Bestände, die so große Namen wie Bacon, Picasso, Degas, Renoir, Klimt und Schiele umfassen, versagt das kuratorische Prinzip auf ganzer Linie. Motivisch verwandte Bilder lieblos nebeneinander an die Wand zu hängen und Haute Couture Kleider von der Decke baumeln zu lassen, zeugen weder von Kreativität noch Sachverstand. Erschreckend uninspiriert verhandelt man die Thematik der Ausstellung, die auf der Homepage lapidar umrissen wird: „Ausgehend von einem Schwerpunkt innerhalb der Heidi Horten Collection – das Bild der Frau und der Blick auf Frauen sowie verschiedene Aspekte, die mit Weiblichkeit verbunden werden –, entwirft die Ausstellung acht Kapitel mit unterschiedlichen thematischen Fragestellungen. (…) Mode wird seit dem 19. Jahrhundert als Paradigma der modernen Kultur verstanden und ist das beherrschende Modell für das Hier und Jetzt, für Zeitgeist, Gesellschaft und deren Wandel. Kleidung ist textiles Medium der Kommunikation, sie verbirgt und legt gleichermaßen frei, dient der Selbstdarstellung, ebenso wie dem Schutz und der Verhüllung des Körpers.“
Wie wichtig für Exponate jedweder Form ein kluger Rahmenkontext ist, um neue Erkenntnisebenen zu eröffnen und die Rezeption über eine offensichtliche Motivdarstellung hinauszutragen, wird während des Besuchs mehr als deutlich. Wie sehr selbst gute Kunst leidet, wenn das Prinzip des Kuratierens, also des Sorge Tragens, nicht beherrscht wird, kann in diesem Museum studiert werden. Oder um wiederum Karl Kraus zu bemühen: Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.
https://www.leopoldmuseum.org/de/ausstellungen/107/wien-1900